Glasschalen

 

Es kommt immer wieder vor, dass Menschen Teile ihrer Seele abspalten, meist sind es Empathie, Liebe und Freundschaft. In der Zauberschule von Hogwarts würde man dabei von Horkruxen sprechen, doch da sind wir ja nicht. Wenn also so eine Freundschaftsfähigkeit oder sogar Liebesfähigkeit abgespalten wird, warum auch immer, kann sie nur in ganz hauchdünnen Glasschalen aufbewahrt werden. Woanders würde sie verderben. In den dünnen Schalen aber bleibt diese Fähigkeit frisch.

 

Manche tragen diese Schalen immer mit sich herum, weil sie ahnen, wie wichtig ihr Inhalt ist und vor allem, dass er zur Person gehört, dass man also nicht komplett ist ohne diese Fähigkeiten. Andere sperren sie in einen Tresor, damit ihnen nur ja nichts passiert. Wenn das Glas nämlich zerbricht, so fließt die Fähigkeit aus und man hat Mühe, sie händisch halbwegs wieder einzusammeln und noch mehr Mühe, wieder eine dieser seltenen dünnen Glasschalen zu besorgen.

 

Die wenigsten Menschen wissen, dass man nur dann wahrhaft glücklich und für andere beglückend leben kann, wenn man komplett ist. Sollte also jemand Anteile von sich in Schalen aufbewahren – ja, man kann auch mehrere davon besitzen - geht es ihm nur dann halbwegs gut, wenn er alle Schalen um sich aufstellt oder sonst wie mit sich führt. Umständlich, nicht wahr? Der wahrhaft Weise hat gar keine Schalen, sondern trägt alle seine Anteile in sich. Damit macht er sich zwar ganz schön verletzlich, aber mit jeder wahren menschlichen Begegnung wird er robuster und dadurch immer weniger verletzlich bei gleicher Ganzheitlichkeit. Am ganzheitlichsten sind Kinder, so genannte Narren und sehr weise Menschen, die aber meist auch Narren sind in den Augen der anderen.

 

Einmal begegneten einander ein Mann und eine Frau – für gewöhnlich eine gute Kombination, um die genannten Fähigkeiten auszutauschen. Die Frau hatte ihre Liebe in einer Schale, die sie überall mit sich herumtrug und anderen zuweilen aufdrängte, denn sie ahnte, dass Ganzheitlichkeit zurück gewonnen werden kann durch das Übereinanderstülpen zweier Schalen. Dadurch hätte man sogar noch einen Gewinn, denn die Fähigkeit darin verdoppelt sich sofort nach der Vereinigung. So bekämen also beide Beteiligten hier doppelte Liebe statt nur ihrer eigenen.

 

Der Mann in diesem Beispiel hatte seine Liebe im Tresor und es irritierte ihn sehr, dass die Frau ihre immer offen auf den Tisch stellte. Ihm erschien das unangebracht. Eines Tages bat er sie, die Schale zu Hause zu lassen, wenn sie ihn besuchte. Die Frau aber, die gehofft hatte, ihre Schale auf seine stülpen zu können, weigerte sich. Darum blieb die Schale des Mannes unberührt im Tresor und die Frau ging auf die Suche nach anderen Möglichkeiten, ihre Ganzheit wieder zu erlangen.

 

 

Mit jedem Tag etwas mehr Weisheit,

noch mehr Dankbarkeit –

welch schönes Altern!

 

 

Alle Texte und Grafiken

sind urheberrechtlich

geschützt. Copyright

Karoline Toso

 

karoline.toso@gmx.at

 

A-8342 Gnas

Wörth 22

 

 Fotos:

(als Umrahmung der Texte)

Mit freundlicher

Genehmigung

Dechant Mag. Georg Fröschl

Pfarre Breitensee,

 1140 Wien 

www.pfarre-breitensee.at