Ludger

Teil 1

 

Ludger blühte auf, seit Marlene im Büro drei Tische links von ihm saß, er sie also täglich sehen konnte. Drei Jahre lang blühte Ludger also bereits auf. Für sie hatte er sich gewagte Hemden gekauft, weiß mit zarten grünen Streifen oder sogar kariert und das fürs Büro. Heldenhaft hatte er Mutters Protest beim Frühstück ertragen, wenn er diese Hemden ohne Krawatte trug, wenn er in der Übergangszeit den Pullunder verschmähte, den ihn Mutter wie üblich sorgsam hinlegte. Recht robust dünkte er sich, als er entdeckte, dass das Unterhemd als wärmend völlig ausreichte, zumal er nicht direkt am Fenster saß, das zu seinem Ärger meist gekippt blieb. Im Sommer ließ er mitunter auch den zweiten Hemdknopf offen und hoffte, Marlene würde es anerkennend bemerken.

 

Zugegeben, sie war nicht nur um elf Jahre jünger als er, sie war auch die hübscheste und selbstbewussteste Frau, der er je begegnet war. Leider fanden das auch alle anderen Kollegen der Abteilung und als sie das erste Mal von ihrem Freund abgeholt wurde, sank bei Ludger jede Hoffnung darauf, von ihr auch nur bemerkt zu werden. Ihr Freund war groß, breitschultrig mit ebenmäßigen Gesichtszügen, strahlendem Lächeln und blitzblauen Augen. Als er in der Ledermontur von der Harley stieg, verschlug es allen, die gerade in der Nähe standen, den Atem. Selbst die Männer mussten neidlos anerkennen, dass Patrik ein Bild von einem Mann war, dabei mit einer Ausstrahlung, dass man ihn mögen musste. Zärtlich hatte er Marlene in die Arme geschlossen und sie an sich gedrückt. Sie strahlte mehr als ohnehin schon. Seitdem war er oft beim Abfeiern abends dabei, manchmal sogar bei Firmenfeiern.

 

Ludger kam abends nur selten mit, die Wirtshausatmosphäre war nicht so ganz das Seine. Außerdem wartete Mutter zu Hause mit dem Abendessen. Dass er neben den Kollegen mehr als spießig und auch verklemmt wirkte, war ihm nur ansatzweise bewusst. Schließlich war es immer schon so gewesen, er hatte nie richtig Anschluss gefunden, war aber auch nie wirklich gemobbt worden, ganz einfach, weil er niemandem aufgefallen war. Gehorsam und äußerst gewissenhaft ging er seinen Verpflichtungen nach, war höflich, zurückhaltend, freundlich. Dass seine Kollegen in Jeans und T-Shirt zur Arbeit erschienen, fand er zwar äußerst unpassend, doch diskret wie er war, hätte er sich nie dazu geäußert. Dass er als einziger in Hemd und meist auch in Krawatte erschien, bemerkte er nicht.

 

Als er bereits das zehnte Jahr in der Firma arbeitete, tauchte Marlene in seiner Abteilung auf. Trotz ihrer Präsenz, ihrer starken Ausstrahlung, war sie bescheiden, sehr gesellig, kollegial und vor allem kompetent. Ludger beobachtete, wie sich diese Kompetenz auch auf soziale Belange bezog, denn so manche Kollegin schüttete ihr in der Mittagspause das Herz aus. Im Nur war Marlene mit allen befreundet. Sogar an ihm, der so oft beim Grüßen übersehen wurde, ging sie nie vorbei, ohne ihn anzulächeln, oder hinüber zu grüßen. Ihm blieb jedes mal fast das Herz stehen, wenn sie ihn so direkt und bewusst anblickte. Das machte sonst keiner, außer seiner Mutter schaute ihn niemand so bewusst an. Wenn sie ab und zu den Aufzug gemeinsam benutzten und belanglos plauderten, über das Wochenende, das Wetter oder die Inflation, bekam seine Stimme einen noch weicheren Klang, alles nahm er wie verschwommen wahr, wie benebelt. Gleichzeitig registrierte er jede ihrer Gesten, ihre Blicke, die Körperhaltung, jedes Detail ihres Outfits und vor allem ihren frischen Duft. Am liebsten hätte er sich ihr zugeneigt und genüsslich diesen Duft eingesogen, der Leben und Wohligkeit vermittelte.

 

Marlene bemerkte nichts von all dem, auch nicht die Bewunderung der anderen. Sie arbeitete so gut sie konnte, erzählte manchmal in einer Kaffeepause von den Urlauben mit Patrik, auch wie lange sie bereits beisammen waren und woher sie ihn kannte. Umsichtig hatte es Ludger geschafft, immer gerade so nah zu sein, dass er nichts von ihr verpasste, aber entfernt genug, um nicht aufzufallen.

 

Trotz seiner dreiundvierzig Jahre hatte sich Ludger bis dahin noch nie verliebt, hatte auch nie Sehnsucht danach verspürt. Irgendwie war er an Mutters Seite ein behütetes Kind geblieben, hatte sich nie Gedanken über eine Veränderung dieser Situation gemacht und wusste instinktiv, dass diese Harmonie auch für Mutter das Angenehmste war. Der Vater, verschlossen, zurückhaltend, unnahbar wie er, aber kälter, strenger als er, war an einer Gehirnblutung gestorben, als Ludger vierzehn Jahre alt gewesen war.

 

Marlene hastete zehn Minuten nach Dienstbeginn die Stufen hinauf, der Aufzug war defekt. Ludger brachte gerade einige Akten zur Chefetage und erblickte sie sehr erfreut. Es war ihm sofort aufgefallen, dass sie um acht Uhr nicht an ihrem Platz saß. Sie nun zu sehen, noch dazu in ganz anderer Weise als sonst, nicht so gelassen, sondern verletzlich in ihrer Eile, stimmte ihn sofort glücklich. Sie wirkte immer ausgeglichen und souverän. Nun aber hetzte sie mit wehendem Haar und unordentlich sitzender Jacke die Stufen hinauf. Wie lebendig und schön sie war. Verzückt blieb er stehen. Ihr Halstuch rutschte zu Boden. Schon wollte er rufen, ein kurzes Treffen damit feiern, doch sie hastete dahin, er wollte sie nicht aufhalten. Ruhigen Schrittes ging er zu dem Halstuch und steckte es rasch in die Tasche. Würde es ihm die Möglichkeit bieten, sie anzusprechen, ihren Dank entgegenzunehmen, wenn er ihr das Tuch überreichte? Er lächelte glücklich über den gefundenen Schatz.

 

Marlene hatte sich schnell am Computer eingerichtet, warf die Jacke über die Sessellehne und atmete tief durch. Kein Vorgesetzter hatte ihr Zuspätkommen bemerkt, die Kolleginnen hatten ihr lieb zugelächelt, also alles im Lot. Zehn Uhr Pause: Marlene brachte die Jacke zur Garderobe und bemerkte, dass ihr Seidentuch fehlte, das grüne, das sie sich im letzten Urlaub mit Patrik in Malta gekauft hatte. Sie liebte die Farbe grün, mochte dieses Halstuch. Frustriert hielt sie inne und überlegte, wo sie es verloren haben konnte.

 

Siebzehn Uhr, Dienstschluss. Alle brachen erleichtert auf, manche riefen Marlene zu, ob sie noch zum Abfeiern kurz mitkommen wolle. Sie lehnte ab, kurz zuvor hatte sie noch einen Akt hereinbekommen, der dringend bearbeitet werden musste. Über diese knappen Eingänge ärgerten sich alle, auch sie, die immer verständnisvoll und leistungsbereit war. Sie studierte die Angaben, tippte in die Tasten, da hörte sie ein Rascheln. Sie hatte geglaubt, allein im Büro zu sein. Sie stand auf und entdeckte Ludger, wie er an seinem Schreibtisch saß, mit geschlossenen Augen ihr Halstuch gegen sein Gesicht drückte und verzückt dessen Duft einatmete. Erstarrt vor Staunen beobachtete sie ihn. Ludger, der Schrullige, aber irgendwie Liebe. Wie kam er an ihr Halstuch? Hatte er es gestohlen? Einige Sekunden lang beobachtete sie ihn unbemerkt. Etwas Rührendes und sehr Einsames bot sich ihr dar. Sie wollte ihn nicht beschämen. Vorsichtig setzte sie sich wieder und arbeitete weiter. Als sie ein Niesen von Ludgers Platz hörte, fragte sie mit gespielt überraschtem Tonfall: „Ist da noch jemand?“

 

Ludger stand auf, und starrte sie erschrocken an. „Du bist noch da, Marlene!“, rief er und konnte seine Freude kaum verbergen. „Ja, hab noch einen wichtigen Akt zu bearbeiten“, antwortete sie in freundschaftlichem Ton. Er betrachtete sie ohne weitere Worte, konnte sich nicht von ihrem Anblick losreißen, es fiel ihm aber auch nichts ein, was er sagen hätte können. Marlene schmunzelte und bearbeitete in aller Ruhe den Akt. Nach einigen Minuten frage er: „Ich sollte wohl gehen.“ Marlene unterbrach das Tippen und schaute ihn an. Sie lehnte sich zurück, lächelte und schaute ihn nur an. Er erwiderte den Blick, erschrocken und glücklich zugleich. Da wusste sie, dass dieser unscheinbare Mann offensichtlich in sie verliebt war. Wie bescheiden und hilflos er dastand. Sie dachte an das Halstuch, das höchstwahrscheinlich auf seinem Schreibtisch lag. „Hast du noch lange zu tun?“, brach er endlich das Schweigen. „Dauert wohl noch locker eine viertel Stunde“, antwortete sie. „Darf ich warten?“, fragte er. Sie lachte hell auf, er war einfach zu niedlich. „Wenn du möchtest“, antwortete sie und tippte weiter.

 

Dann fuhren beide im Aufzug hinunter. Marlene wusste, dass er ihr Halstuch in der Tasche hatte, doch sie lächelte ihn an. Er lächelte etwas gekünstelt zurück. Lächeln war nicht seine Stärke. Dann sagten sie: „Schönen Abend noch!“ zueinander und gingen ihrer Wege. Erstaunlicherweise ärgerte es Marlene nicht, das Halstuch nicht mehr zurück zu bekommen. Diesen einsamen eigenartigen Menschen damit zu erfreuen, zu wissen, dass er sie so sehr verehrte, stimmte sie feierlich. Sie fühlte sich sogar etwas geehrt.

 

Ludger ging wie auf Wolken. So persönlich war er Marlene noch nie begegnet. Er hatte bei seinem Schreibtisch auf sie gewartet, hatte ihr Tippen gehört, wusste, dass sie nichts dagegen hatte, mit ihm gemeinsam das Gebäude zu verlassen. Dann die Nähe im Aufzug, ihr Lächeln, der freundliche Gruß zum Abschied. Und vor allem der Schatz in seiner Tasche, ihr Tuch, ihr Duft. Er konnte es kaum erwarten, es zu Hause an sein Gesicht zu drücken und lange, lange Zeit diese zarte Nähe zu genießen.

 

Mutter merkte sofort, dass Ludger anders war. „Du wirkst so beschwingt, was hast du denn Schönes erlebt?“, fragte sie freundlich und fürsorglich wie immer. „Ach, Mutter, die Welt ist schön!“, antwortete er lächelnd. „Du hast dich doch wohl nicht verliebt, Bub?“, fragte sie besorgt. „Aber Mutter! Wäre es nicht wunderbar, wenn ich endlich eine Frau finden würde, wäre es nicht das Normalste?“ „Hüte dich, Kind, du weißt nichts von den Verstrickungen, in die Frauen einen ehrlichen, frommen Mann bringen können!“ Ludger lächelte noch fröhlicher. „Bist du nicht auch eine Frau, hast du Papa nicht auch umgarnt in der Jugend? War eure Liebe denn nicht schön, also zumindest am Anfang?“ fragte er zurück und wusste genau, dass ihm nur die Verliebtheit solchen Mut einflößte. Mutter sprach nie über ihre ersten Ehejahre. Der Vater war unnahbar und verschlossen gewesen und in seiner stillen Weise sehr streng. Sein Wort zählte, da gab es keine Widerrede. Ludger erinnerte sich nicht, je von ihm gelobt worden zu sein. Wenn er es recht bedachte, war Mutter stets eine dienende, unterwürfige Hausfrau gewesen. Er, Ludger, schien ihre einzige Freude im Leben zu sein.

 

Er hatte sich die Hände gewaschen, denn das Abendessen stand bereit. Rasch drückte er in seinem Zimmer das seidene Tuch ans Gesicht, schloss die Augen und schwebte vor Glück mehrere Atemzüge lang. „Wo bleibst du, Bub?“ rief Mutter. Sie aßen fast schweigend, ab und zu ein Wort darüber, was er am folgenden Abend gerne essen wolle, welchen Film sie anschließend gemeinsam schauen wollten, ob er für den nächsten Tag nicht doch endlich wieder eine Krawatte tragen wolle, welche Hosen in die Putzerei mussten. „Mutter“, sagte er mitten drin. „Wenn ich eine Frau finde, eine Liebe, dann heißt das natürlich nicht, dass ich dich deswegen weniger lieb habe, das weißt du doch.“

 

Die Mutter schaute ihn erschrocken an. „Also geht es doch um ein Weib. Du hast eine Liebschaft, hast dich umgarnen lassen“, brachte sie mit brüchiger Stimme hervor. „Aber nein, Mutter, nein!“, beschwichtigte Ludger sofort und legte seine Hand auf ihre. „Es gibt keine Frau in meinem Leben. Da gibt es nur eine Kollegin, die aber kein Interesse an mir hat. Sie lebt bereits in einer glücklichen Beziehung. Aber durch sie merke ich endlich, wie schön es wäre, auch zu lieben und geliebt zu werden. Würdest du mir denn dieses Glück nicht wünschen, Mutter?“

 

Sie schaute ihn lange und traurig an. „Ich wünsche dir immer nur das Beste, mein liebes Kind. Aber du bist unerfahren und die Frauen sind gerissen, wollen nur immer ihren Vorteil.“ Ludger lachte nun sogar ein bisschen. „Du hast Vorurteile und vielleicht Angst, ich könnte dich verlassen. Aber es ist nicht so. Liebe wäre so schön für mich, glaub mir.“ Sie blieb skeptisch, sagte aber nichts mehr. Er blieb den ganzen Abend lang in der Verliebtheitsstimmung und freute sich über den Liebesfilm, den er mit Mutter schaute, die bereits nach wenigen Minuten am Sofa eingeschlafen war.

 

Am folgenden Morgen grüßte ihn Marlene mit strahlendem Lächeln, sie nannte sogar seinen Namen, quer über die Tische hinweg, sodass alle es hören konnten: „Guten Morgen, Ludger, gut geschlafen?“ sagte sie fröhlich. Er war so überrascht, dass er keinen Ton herausbrachte. Es schien sie nicht zu stören. Sie lächelte noch inniger, als sie sein verdutztes Gesicht sah, setzte sich und arbeitete mit der größten Selbstverständlichkeit am Computer. Niemand hatte von dieser kleinen Begebenheit Notiz genommen. Marlene war eben immer recht freundlich und Ludger, nun, der war immer irgendwie unauffällig. Er brauchte mehrere Minuten, um sich nach dieser Freude und Überraschung zu sammeln. Sonst beflügelte ihn die Liebe zu Marlene, nun aber lähmte sie, denn er spürte unbändiges Verlangen nach ihrer Nähe. Am liebsten hätte er das Tuch hervorgeholt und es sich aufs Gesicht gedrückt. Noch besser aber wäre ihre persönliche Nähe gewesen. In ihm entstand das Bild, wie er zu ihr hinging, vor allen anderen, wie er sich vor sie hinkniete, sie drehte freundlich lächelnd den Sessel in seine Richtung, er legte sein Haupt auf ihren Schoß, umfing sie und schmiegte sich ganz nah an sie, verkroch sich förmlich. Sie legte liebevoll die Hände auf seinen Kopf und streichelte ihn. Dieses Bild war so deutlich in ihm, dass er sich richtiggehend bemühen musste, nicht wirklich aufzustehen und zu ihr hinzugehen.

 

Schwitzend saß er vor dem Computer und hatte nicht einen einzigen Akt bearbeitet, als sein Kollege neben ihm meinte: „Kumpel, geht’s dir nicht gut? Du wirkst so verstört. Oder hast einen Kater?“ Ludger zuckte zusammen, ging hinaus und trank einen Becher Wasser. Das half etwas, doch die Arbeit an diesem Tag fiel ihm schwer und ging nur schleppend voran. Wenn er Marlene im Vorbeigehen am Schreibtisch sitzen sah, spürte er Erregung. Das Gefühl war so neu, so aufregend, so irritierend. Und es war schöner, als alles, was er bisher gekannt hatte. Er konnte bald an nichts anderes denken, als an ihren Blick, ihre Hände, ihre Stimme, ihre schöne Gestalt, ihren Gang. Immer wieder ertappte er sich dabei, dass er vor dem Computer saß und ins Leere starrte, Marlene vor seinem inneren Auge. Dann bemerkte er, wie steif sein Penis allein bei diesem Gedanken wurde. Was für eine Welt tat sich ihm auf!

 

Die Tage flogen dahin wie im Traum. Ludger bemerkte beglückt, dass ihn Marlene ganz bewusst täglich grüßte, ihm manchmal lächelnd zunickte, ihn immer bemerkte. Mit Mutter sprach er lieber nicht mehr über sie, denn er wollte sie nicht beunruhigen, da an eine konkrete Beziehung mit Marlene ohnehin nicht einmal zu denken war. Ja, nicht mal, wenn sie keinen festen Freund gehabt hätte, denn dann wäre er wohl der Letzte, den sie an ihrer Seite haben wollte. So freundlich sie auch zu ihm war, verglichen mit den anderen Kolleginnen und Kollegen, so wusste er nur zu gut, dass es aus ihrer Sicht nur Höflichkeit war, was sie ihm entgegenbrachte. Trotzdem machte sie ihn glücklich damit. Mehr erwartete er nicht vom Leben. Er sah seine Liebe täglich und sie bemerkte ihn freundlich. Welch größeres Glück konnte es noch geben nach den Jahren der bisherigen Eintönigkeit?

 

Jeden Abend vor dem Schlafengehen kramte er Marlenes Halstuch hervor, das er sorgsam vor Mutter verborgen hielt. Er schmiegte das Gesicht ganz in das weiche Tuch, sog genüsslich dieses Duftgemisch aus Seife und Eau de Toilette ein und war glücklich. Wenn er Marlene sah, musste er auch an ihr Tuch und ihren wunderbaren Duft denken. „Guten Morgen, Ludger, gut geschlafen?“ fragte sie wieder einmal freundlich im Aufzug. Es waren auch zwei andere Kollegen anwesend, die sie grüßte. Aber nur ihn hatte sie mit Namen angesprochen, nur ihn danach gefragt, wie er geschlafen hatte. Erfreut antwortete er: „Ja, wie ein Baby, und du? Hast du auch gut geschlafen?“ Gerne hätte er auch ihren Namen ausgesprochen, doch er wagte es nicht, es schien ihm zu persönlich zu verräterisch. „Ja, danke, geht so.“ Sie sah ihn bewusst an, lächelte leicht, vermittelte irgendwie das Gefühl von Vertrautheit. Marlene verließ vor ihm den Lift. Als er sie so vor sich sah mit der Jacke und einem roten Halstuch, wurde ihm mit einem Mal bewusst, dass er die Frau, die er so sehr liebte, bestohlen hatte.

 

Er hatte aus purem Egoismus ihr Halstuch behalten. Ihm wurde fast ein wenig übel bei dem Gedanken. Unwillkürlich war er stehen geblieben und starrte ihr nach, ihren schönen, selbstbewussten Gang, den Schwung ihrer Bewegungen, ihr Outfit. „Ich habe sie bestohlen! Die Frau, die ich liebe, habe ich bestohlen!“ Dieser Gedanke quälte ihn den ganzen Tag, er wagte nicht, Marlene anzuschauen, wenn sie einander in der Kantine oder beim Kaffeetrinken trafen. Ihr das Tuch zurückzugeben würde ihm schwerfallen, es war sein größter Schatz. Viel schwieriger aber würde es sein, es nach den vielen Tagen zu tun. Wie sollte er das begründen? Er grübelte herum, konnte sich kaum auf seine Arbeit konzentrieren und bedauerte vor allem, dass er ihre Freundlichkeit nun nicht mehr so genießen konnte, da er sich schuldig fühlte.

 

Zwei Tage und zwei Nächte dauerte diese Qual. Schließlich aber küsste er ein letztes Mal das geliebte Tuch und steckte es in seine Tasche, als er zur Arbeit ging. Minutiös hatte er sich einen Plan zurechtgelegt, wie er, von Marlene und den anderen unbemerkt, das Tuch heimlich in ihre Jackentasche stecken könnte. Und es gelang. Als sie das Büro kurz verließ, stand auch er auf und konnte das Tuch rasch deponieren, dann holte er sich einen Kaffee, um keinen Verdacht zu erregen. Traurig wegen des Verlustes, aber dennoch sehr erleichtert arbeitete er verbissen, um einerseits seinen Rückstand aufzuholen, aber vor allem auch, um sich abzulenken. Zu Dienstschluss trödelte er absichtlich herum, denn er schaffte es nicht, Marlene womöglich beim Aufzug zu begegnen. Ganz allein verließ er das Büro, stand mit hängendem Kopf und hängenden Schultern beim Lift, als er vollkommen unerwartet eine Hand auf seiner Schulter spürte. Erschrocken wandte er sich um und blickte in Marlenes ernstes, bezauberndes Gesicht. Sie fixierte ihn ohne ein Wort. Er erwiderte starr vor Aufregung den Blick.

 

Der Lift kam, sie stiegen ein. Langsam zog sie das Tuch aus der Tasche und fragte: „Magst du mich nicht mehr?“ Sie lächelte ihn schelmisch an, ihm wurden die Knie weich. Ohne sich dessen ganz bewusst zu sein, neigte er sich zu ihrer Hand hinab, nahm sie samt dem Tuch in seine beiden Hände und küsste das Tuch, küsste ihre Finger, ihre Handfläche und stammelte schließlich: „Marlene!“ „Du Lieber!“ antwortete sie und streichelte ihm übers Haar. Sie war voller Rührung, empfand ein wenig Mitleid und mochte diesen komischen Kauz. Der Aufzug war angekommen, die Türen öffneten sich und schlossen sich wieder. Weit und breit war niemand zu sehen, Marlene registrierte das, denn sie wollte bei Kollegen keine Missverständnisse heraufbeschwören, schaffte es aber auch nicht, Ludger einfach stehen zu lassen, denn er starrte sie an und konnte sich nicht rühren. „Ich schenke dir das Tuch. Es ist schön, wenn jemand einen mag. Ich finde dich nett, Ludger“, sagte sie endlich so sachlich wie möglich. Ein Mann wie er konnte ein potentieller Stalker sein. Mit einer kleinen Berührung am Oberarm ließ sie ihn endlich stehen. Tatsächlich dauerte es noch weitere zwei Minuten, bis er es schaffte, nach Hause zu gehen, das Tuch fest in der Hand.

 

Teil 2

 

 

Mutter bemerkte Ludgers verträumte Abwesenheit, doch als sie auch merkte, dass er wortkarg blieb, ließ sie ihn in Ruhe, nahm sich aber vor, ihn gut zu beobachten. Sie sorgte sich, er könne einer unglücklichen Liebe verfallen, oder von Kollegen geschnitten werden, wie es manchmal in der Schule vorgekommen war, obwohl er eigentlich selten mit anderen Kindern zu tun hatte. Die Rolle der beschützenden, sich sorgenden Mutter hatte sie nie aufgegeben und er nie die des behüteten von ihr gut betreuten Sohnes. In dieser Nacht konnte er keinen Schlaf finden, wollte das auch gar nicht. Tausend mal ließ er jede Sekunde, die er mit Marlene im Lift verbracht hatte, Revue passieren, berauscht von dieser innigsten Begegnung mit einer Frau, die er je erlebt hatte. Hatte er wirklich ihre Hand geküsst? Hatte sie es tatsächlich zugelassen? Oder war das alles nur ein Traum gewesen? Marlene, die er so sehr liebte, von der er nie geglaubt hatte, sie würde je etwas Persönliches mit ihm sprechen, hatte ihm diese Begegnung im Lift geschenkt. Dann das Tuch, hatte sie tatsächlich gesagt: „Magst du mich nicht mehr?“ Hatte sie denn die ganze Zeit gewusst, dass er das Tuch hatte, dass er es täglich küsste, ans Gesicht drückte, liebte, weil es ihres war? Er war verwirrt, glücklich, verliebt, unfähig, die Gedanken zu ordnen.

 

Im Büro verhielt sich Marlene freundlich distanziert, Ludger spürte sofort diese unsichtbare etwas größere Barriere und blieb zurückhaltend wie immer. Ab und zu trafen sich ihre Blicke, sie lächelte kurz, er versuchte auch ein kleines Lächeln. Das war nicht viel an Zuwendung, aber mehr, als er sich Jahre lang erträumt hatte. Seit sie ihm das Tuch geschenkt hatte, fühlte er sich nicht mehr allein, nicht mehr übersehen. So konnte es bleiben. Sie würde Patrik heiraten, würde Kinder bekommen, doch sie würde in Ludgers Nähe bleiben, in diesem Büro. Er konnte sich nicht vorstellen, je von ihr getrennt zu sein.

 

Die Wochen gingen dahin. Ludger glaubte bemerkt zu haben, dass Marlene etwas weniger Energie ausstrahlte, etwas ernster wirkte, als sonst. Es war nur minimal zu bemerken und nur für jemanden, der sich gedanklich ausschließlich mit ihr beschäftigte. Einmal glaubte er sogar Tränen in ihren Augen zu sehen, die sie rasch wegwischte. Es bedrückte ihn, sie so zu sehen, ohne Hilfe anbieten zu können. Da ergab es sich wieder einmal, dass sie allein nach Dienstschluss im Aufzug standen. Sie lächelte ihn nur an, bemüht, fröhlich zu wirken. „Bedrückt dich etwas, Marlene, kann ich etwas für dich tun?“, fragte er gerade heraus, unfähig, durch kleine Andeutungen eine Atmosphäre zu schaffen, die ihr Vertrauen aufbauen würde. Sie senkte den Blick, ging sogar einen Schritt von ihm weg. Ihm wurde heiß vor Schreck, denn er glaubte schon, gerade viel zerstört zu haben mit dieser vielleicht zu persönlichen Frage.

 

Der Lift war angekommen, die Türe öffnete sich. Beide blieben stehen. Sie in ihrer ungewohnt bedrückten Körperhaltung, er, gebannt den Blick auf sie gerichtet. „Magst mit mir was trinken gehen? Vielleicht nicht gerade in der Nähe, ich möchte im Moment keine Kollegen treffen“, sagte sie vollkommen unerwartet. Ludger konnte nicht sofort reagieren, er war wie gelähmt. Schließlich fügte sie hinzu: „Ist aber nicht so wichtig, wenn es dir jetzt zu kurzfristig ist. War nur so ein Gedanke von mir, vergiss es.“ Sie wollte schon gehen, er hielt sie sanft am Arm zurück. Noch immer brachte er keinen Ton heraus, doch er wollte auf keinen Fall, dass sie ging. Überrascht schaute sie ihn eindringlich an. Ihr Gesicht hellte sich ein wenig auf. Offenbar konnte sie in ihm lesen, konnte verstehen, was in ihm vorging, dass sein Verhalten keine Ablehnung war, sondern, im Gegenteil, eine so große Zustimmung, dass sie ihn überwältigte und handlungsunfähig machte. Endlich nickte er und sagte mit zittriger Stimme: „Kennst du ein Lokal?“ „Klar!“, antwortete sie in ihrer gewohnt fröhlichen Art.

 

Ich sag nur schnell Mutter Bescheid“, sagte er, als sie zur U-Bahn gingen. Verblüfft starrte sie ihn an, schwieg aber dazu. „Ja, Mutter, ich bin's. Es ist so, ich komme heute etwas später nach Haus... nein, ich weiß noch nicht... nein, nicht die Arbeit... aber nein, mach dir keine Sorgen, da ist überhaupt nichts. Ja, bitte, ich wärme es mir dann in der Mikrowelle. Ja, Mutter, ich weiß, nein, ich werde nichts trinken... ja, danke, dir auch einen schönen Abend. Bis später. Tschüss.“ Erleichtert steckte er das Handy weg. Er hatte schon befürchtet, sie würde ihm verbieten, mit Marlene was trinken zu gehen. Andererseits, dazu war sie zu klug. Auch wenn er sich gegen ein Verbot nicht wehren würde, wusste sie doch, dass man einem Erwachsenen nicht so leicht Vorschriften machen konnte, wie einem Kind. Marlene war stehen geblieben und starrte Ludger mit offenem Mund an. „Du meldest dich bei deiner Mutter ab, wenn du nach der Arbeit was trinken gehst?“ fragte sie offen verblüfft. Ludger senkte den Blick. „Es ist wegen des Abendessens. Sie wartet sonst ja auf mich.“ „Deine Mutter wartet mit dem Abendessen auf dich. Vielleicht schaut ihr dann gemeinsam fern“, überlegte sie laut mit dem Tonfall der Fassungslosigkeit. „Ja, genau!“, freute er sich, dass sie seine Lebenssituation gleich erkannt hatte. Im selben Augenblick wurde ihm bewusst, was er da sagte, er sah es Marlene auch an, wie entsetzt sie darüber war. Das Halstuch fiel ihm ein und überdeutlich erkannte er den Unterschied zwischen ihrem freien, selbstbestimmten fröhlichen Leben und seinem Dasein als Kind im Körper eines Mannes. „In deinen Augen bin ich wohl der allergrößte Loser“, stammelte er.

 

Sonderbarerweise war es gerade dieses geknickt Sein, diese Hilflosigkeit und das Sanfte, das Marlene an ihm rührend fand. Zugegeben, für sie war er so etwas wie ein liebenswerter Freak, eine Kuriosität und da er keine Anstalten machte, sich wie eine Klette an sie zu heften, gefiel ihr die stille Bewunderung, die er ihr entgegenbrachte. Sie hängte sich bei ihm ein und sagte: „Haben wir nicht alle unsere Macken?“ Er drückte ihre Hand ganz fest an sich und sie drückte ihm freundschaftlich kurz den Oberarm. Im Lokal bestellte sie sich Rotwein und ein Glas Wasser. Er trank Pfefferminztee. „Weißt du, Ludger, was mich bedrückt, kann ich mit niemandem besprechen, weil ich Patrik Diskretion schulde. Andererseits platze ich, wenn ich mich nicht bald bei jemandem ausheulen kann. Du wirkst immer so lieb und freundlich mir gegenüber, trotzdem kenne ich dich eigentlich gar nicht richtig...“ Sie brach ab und schien zu überlegen. Ludger versicherte ihr, dass sie mit seiner Verschwiegenheit und seinem ganzen Respekt rechnen könne. Etwas leiser fügte er hinzu: „Meiner Mutter erzähle ich bestimmt nichts von unserem Gespräch und sonst gibt es keine Freunde, denen ich etwas sagen könnte.“

 

Marlene schaute ihn lange an, ernst, liebevoll, etwas mitleidig. „Gut“, sagte sie schließlich. „Sei also mein Vertrauter in dieser Sache, die mich so fertig macht. Ich vertraue dir.“ Ludger fühlte sich beschenkt. Die ganze Zeit glaubte er zu träumen. Am liebsten hätte er ihre Hand genommen, um ihr seine bedingungslose Loyalität und Liebe zu zeigen. „Du kennst doch meinen Freund Patrik“, begann sie. Er nickte. „“Wir sind nun seit vier Jahren ein Paar. Ich habe noch nie einen liebevolleren, aufmerksameren Menschen kennengelernt.“ „Und er ist ungemein attraktiv“, warf Ludger ein, was für ihn ungewöhnlich war, da er nie jemanden unterbrach, schon gar nicht Marlene. Doch nun fühlte er sich mutig, gleichberechtigt, freier, allein durch Marlenes Vertrauen. Sie lächelte. „Ja, und wie!“ schwärmte sie. „Er ist zärtlich, freundschaftlich, ein besserer Gesprächspartner, als so manche Freundin. Nur...“ sie schaute sich hilfesuchend um, rang nach Worten, bekam feuchte Augen. Ohne es zu merken, langte Ludger nun doch über den Tisch, ergriff Marlenes Hand und hielt sie in seiner wärmenden, sanften. Diese Geste löste Marlenes Anspannung. Von kleinen Schluchzern begleitet, rannen ihr Tränen über die Wangen. Ludger erschrak, fühlte sich hilflos, wollte ihr Gutes tun, sie trösten, wusste aber nicht wie. Doch sein ruhiges Dasein war ohnehin das Beste in der Situation.

 

Nach einigen Minuten beruhigte sich Marlene so weit, um weiter zu erzählen: „Weißt du, Patrik ist nicht mein erster Freund, natürlich. Ich weiß also, dass Erotik zu meinem Leben gehört und dass ich durchaus in der Lage bin, mich fallen zu lassen, einem Mann Freude zu ermöglichen, schlicht, guten Sex zu haben.“ Ludger schluckte. Er hielt Marlenes Hand genoss ihr Vertrauen, blickte in ihr verweintes Gesicht, das sich ihm offen zuwandte und durch die Traurigkeit nur umso schöner wirkte. Und sie sprach von Sex. Es schien ihm, als würden sich alle aufgestauten Emotionen, die ihm in seinem Leben bisher versagt gewesen waren, auf einmal entladen. Deutlich spürte er die Erregung, spürte seine Manneskraft, die ihr gewidmet war und deswegen so schön war. Doch hier im Lokal, jetzt, da sie sich ihm anvertraute, durfte das nicht sein. Er begann zu schwitzen. Um sich abzulenken, nahm er nach einem leichten zärtlichen Druck für sie die Hand weg und putzte sich die Nase. Sie nippte an ihrem Wein und fuhr fort:

 

Patrik ist zärtlich, verwöhnt mich, lobt meinen sexy Körper, fotografiert mich gern in allen möglichen Kostümen, Posen, lustigen Posen... aber... er... hm... er kann nicht zu einer Erregung kommen mit mir, wollte auch nicht mit mir darüber sprechen, obwohl wir sonst über alles reden können. Zu Beginn unserer Beziehung dachte ich, das wird schon. Wie du weißt, ist die männliche Sexualität von vielen psychischen Faktoren abhängig und eigentlich sehr filigran sozusagen. Ich glaube, je feinfühliger jemand ist, desto eher neigt er zu Potenzproblemen. Wie siehst du das, Ludger?“ Sie hatte ihn während des Erzählens kaum angeschaut, doch nun schaute sie ihm direkt ins Gesicht und wie so oft hatte er das Gefühl, sie könne in seinen Gedanken lesen, könne sofort erkennen, dass er keine Ahnung von der männlichen Sexualität und noch weniger von der weiblichen hatte. Bis vor wenigen Wochen hatte er sich nicht mal selbst befriedigt. Das kam eigentlich erst durch das Schnuppern an Marlenes Halstuch, durch die körperliche Sehnsucht nach ihr. Bis dahin war die Verehrung eine rein platonische gewesen. Er hatte gelebt, als sei er ein Knabe. Erregung oder gar Verliebtheit war bei ihm nicht vorgekommen. Voll Liebe blickte er sie an und hoffte inständig, nicht jeden Moment zu ejakulieren. Doch er hatte den Eindruck, als könne es passieren, allein ihre Nähe, ihr vertrauendes Erzählen, machte ihn so heiß. Er seufzte.

 

Weißt, du“, fuhr sie fort, „ ich begann, an mir zu zweifeln, an meiner Anziehung als Frau, an meinem Aussehen. Es konnte doch nur an mir liegen, dass dieser tolle, durchtrainierte Patrik keinen hochkriegt. Mich plagten immer mehr Selbstwertprobleme und ich versuchte immer wieder mit ihm darüber zu sprechen, setzte alle Zärtlichkeit und Raffinnessen ein, um ihn zu stimulieren – nichts. Patrik meinte, es liege an ihm, doch ich glaubte ihm nicht mehr, fühlte mich als Versagerin...“

 

Sie schaute gedankenverloren und sehr traurig aus dem Fenster. Ludger versuchte die Bilder ihrer Zärtlichkeit und Raffinesse loszuwerden, doch da saß sie, plauderte in aller Vertrautheit mit ihm und war so nah, so schön. Ein riesengroßer Baum wuchs aus seiner Mitte, jedenfalls schien es ihm so. Verstohlen blickte er sich um und sah nach unten. Na ja, ganz so deutlich war der Baum nun doch nicht. Erleichtert, aber auch ein klein wenig enttäuscht wandte er sich ihr wieder zu.

 

Was soll ich dir sagen, des Rätsels Lösung entdeckte ich vorige Woche“, fuhr sie fort. „Ich hatte meine Eltern besucht, kam aber früher als geplant zurück. Vom Schlafzimmer her hörte ich eindeutige Geräusche. Ich war so verletzt und erschüttert, dass mir regelrecht übel wurde. Du musst dir vorstellen, Ludger, es hat mich viel gekostet, auf Patriks heikle Situation einzugehen. Für mich war es ein gewaltiger Verzicht, nie normalen, ordentlichen Sex zu haben, ich kämpfte mit totalen Selbstwertproblemen seinetwegen! Und dann liegt der da in unserem Bett und vögelt eine andere! Die Schritte waren schwer wie Blei, als ich hinging und die Schlafzimmertür öffnete. Da lag Patrik in inniger Vereinigung mit einem Mann.“ Wieder rannen ihr Tränen über das Gesicht. Still diesmal, doch unaufhörlich. „Und er ist nicht einmal bi, er ist durch und durch schwul!“, klagte sie weinerlich. „Natürlich habe ich nichts gegen Schwule, is ja klar, aber dass er mich da vier Jahre lang belügt, mir nicht sagt, warum es bei uns nicht klappt... ich hätte nie gedacht, dass er mich je anlügen würde!“

 

Ludger fühlte, wie verletzt und unglücklich Marlene war und wäre da nicht seine sexuell noch nie so intensive Erregung gewesen, hätte er sich zu ihr gesetzt und sie einfach in die Arme geschlossen, einfach so als Freund, zum Trost. „Warum ist er dann überhaupt mit dir zusammengekommen?“, fragte er schließlich. „Als ich ihn kennenlernte bei einer Party, war ich sofort verliebt in ihn und habe mich sehr bemüht, seine Freundin zu werden. Ich dachte, ich sterbe, wenn ich ihn nicht kriege. Du weißt ja, wie das mit der Verliebtheit so ist. Sie lächelte versonnen vor sich hin. Ludger aber wusste nicht, wie es sich anfühlte, jemanden unbedingt „haben“ zu wollen. Trotz seiner Liebe zu Marlene, dachte er nicht einen Augenblick darüber nach, sie je als Freundin, ja sogar als Geliebte sehen zu dürfen. Sie war für ihn wie ein Stern; wunderschön, aber unerreichbar. „Habt ihr euch nach deiner Entdeckung aussprechen können? Wie seid ihr denn verblieben?“, fragte er. „Also in der Situation selbst habe ich fluchtartig die Wohnung verlassen, bin stundenlang durch die Stadt gewandert, planlos, um mich abzureagieren. Dann bin ich zurück. Patrik hat auf mich gewartet, ganz zerknirscht. Wir haben die ganze Nacht geredet. Natürlich liebe ich ihn noch immer, aber dass er sich mir nie anvertraut hat, ist wirklich schlimm für mich. Er will mit mir zusammen bleiben, denn auch er liebt mich. Aber es ist auch so, dass er vor seinen Eltern und seiner Motorradgang nicht als schwul dastehen will. Trotz aller Liebe und allem Verständnis fühle ich mich benutzt – und unendlich allein, richtig einsam.“ Sie schaute ins Leere.

 

Ludger konnte sich Marlenes Einsamkeit nicht vorstellen. Er kannte niemanden, der kommunikativer war, als sie. Ihre gewinnende Art machte sie überall sofort beliebt. Verglichen mit ihm selbst, war sie genau das Gegenteil von einsam. Andererseits hatte er sich selten einsam gefühlt. Er war ja nichts anderes gewohnt, als dieses Leben an Mutters Seite und ohne Freunde. Was Patrik anbelangte, fand Ludger aber, dass er Marlene verraten und sie getäuscht hatte. Doch er wagte nicht, es ihr zu sagen. In dieser Situation konnte jedes falsche Wort verletzend sein. „Wohnt ihr noch zusammen? Was sind deine Pläne oder Wünsche?“ fragte er. Sie zuckte mit den Schultern. „Es ist Patriks Wohnung. Ich bin einstweilen bei einer Freundin, hab ihr erzählt, er habe mich mit einer anderen Frau betrogen. Weißt du, es ist mir peinlich, vier Jahre lang nichts von Patriks Veranlagung gemerkt zu haben. Ihn täglich zu sehen, schaffe ich aber zurzeit nicht, ihn nicht zu sehen halte ich jedoch auch nicht aus... Ich fühle mich so unwürdig, als ein Nichts, als unwert und absolut verlassen... Was soll ich tun, Ludger?“

 

Nun war sie es, die über den Tisch langte, seine Hände fest in ihre nahm und ihn hilfesuchend, ja, erwartungsvoll ansah. Er spürte die Berührung, ihr Blick traf ihn direkt ins Herz – und ein Feuerwerk ergoss sich über den Himmel seiner Gedanken, seiner ganzen Existenz. Er seufzte tief, hauchte: „Marlene!“ und brach in Tränen aus. Es waren Tränen der unglaublichen Erleichterung, Tränen unendlicher Liebe und Tränen bodenloser Scham. „Es tut mir so leid! Es tut mir so leid! Es tut mir so leid! Verzeih mir bitte, verzeih mir bitte!“, stammelte er leise mit gesenktem Haupt, unfähig, sie anzuschauen. Darum spürte er auch nicht gleich, dass ihr Händedruck fester wurde, dass sie ihm nun sanft die Handrücken streichelte, dass sie zunächst erschrocken aufgekichert hatte, jetzt aber beruhigend sagte: „Ludger! Ludger, alles ist gut, ist schon gut, Ludger, alles ist gut!“

 

Nach endlos scheinenden Augenblicken hörte er wie von Ferne ihr sanftes: „Ludger, alles ist gut, ist schon gut, Ludger...“ Immer wieder flüsterte sie seinen Namen. Seine Scham wich ihrer beglückenden, beruhigenden Stimme. Vorsichtig riskierte er einen kleinen Blick. Sie lächelte ihm zu. „Recht deutlich, deine Art, mir ein Kompliment zu machen“, sagte sie schelmisch und lächelte. „Ach, Marlene!“, war alles, was er sagen konnte. Er neigte sich vor und küsste zart jeden ihrer Finger. Sie ließ es zu, wurde ernst, schaute ihn überrascht an. Was sie spürte, konnte und wollte sie nicht wahrhaben. Seine kleinen Küsse waren weich und sanft und sie fühlte sich erregt. Doch das konnte und durfte nicht sein, doch nicht bei Ludger – bei aller Freundschaft, aber Ludger war schließlich kein...

 

Kein Mann? Wie absurd! Nein, vielmehr war er kein Mann für sie. Sie überließ ihm aber nach wie vor die Hände, empfand nach wie vor zärtliche Wonne bei seinen Küssen und war gerührt von seiner Hingabe, von seinem so unpassenden und doch für sie passenden Samenerguss, von seiner Demut. Inzwischen wurden die Leute im Lokal auf sie aufmerksam. Sacht entzog sie ihm die Hände, nicht ohne ihm davor über die Haare zu streicheln. „Ludger, Ludger“, seufzte sie. „Was passiert da gerade? Du interpretierst mein Vertrauen hoffentlich nicht falsch. Versteh mich bitte, ich bin nicht in der Lage, mich auf dich einzustellen, mich dir zu widmen, mit dir... mir geht es gerade schlecht genug...“ versuchte sie, ihn so sanft wie möglich abzuweisen.

 

Nein, natürlich, mein Gott, Marlene, ich wollte dir nie zu nahe treten, verzeih! Nie würde ich deine Traurigkeit, dein Vertrauen so schamlos ausnützen, wo ich dich doch so sehr... - ich maße mir natürlich nicht an, auch nicht im Entferntesten, glaub mir...“ Er war ganz durcheinander. Da lachte sie plötzlich hell auf. Nun drehten sich wirklich alle im Lokal nach ihnen um. Marlene lehnte sich zurück und lachte immer mehr. Ihre ganze Anspannung entlud sich, je länger sie lachte, desto heftiger wurde es. Sie lachte sich alles von der Seele. Ludger war zunächst etwas perplex, lächelte verschämt, ließ sich aber schließlich von ihr anstecken, verhaltener zwar, aber doch fröhlicher, als er in den letzten Jahrzehnten oder überhaupt in seinem Leben je gelacht hatte. Marlene und ihr Lachen machten ihn froh und es tat ihm so gut, herzhaft zu lachen.

 

Das hat gut getan, Ludger“, sagte sie mit Lachtränen in den Augen. Ihr Blick verzauberte ihn. Er hätte nicht geglaubt, dass seine Liebe noch inniger werden konnte. „Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass es dir gut geht. Nie soll dir etwas Trauriges passieren!“, bekannte er unvermittelt mit erstem Blick. Auch sie wurde ernst, schaute ihn an, lange, still. „Ich danke dir, du bist wirklich ein Freund, hast mir geholfen... jetzt muss ich über alles nachdenken, muss mir überlegen, ob ich mir eine Wohnung suche, ob ich bei meiner Freundin einziehe... vor allem muss ich jetzt allein sein.“ Sie kramte die Geldbörse hervor. „Darf ich dich einladen?“, bat er und winkte der Kellnerin. „Danke!“, sage sie und schenkte ihm ein Lächeln. Er hatte bis dahin noch nie ein Mädchen eingeladen, er hatte Marlenes Vertrauen gewonnen, er durfte hoffen, sie vielleicht wieder mal einladen zu dürfen. Glücklicher konnte man sich gar nicht fühlen. Als sie das Lokal verließen, hielt er die Hand vor den Schritt. um den Fleck etwas zu kaschieren, der ihn nun sogar mit Stolz erfüllte. Marlene lugte kurz hin und prustete vor dem Lokal aufs Neue los, dann fiel sie ihm um den Hals und lachte hell auf. Er drückte sie fest an sich, einen Augenblick nur, dann ließ er sie los. Wieder trafen sich ihre Blicke. Kurz, aber tief und ernst.

 

In der U-Bahn redeten sie nicht miteinander. Zum Abschied küsste sie ihn leicht und kurz auf die Wange. Er hob die Hand zum Gruß und konnte sich nach diesem unerwarteten Kuss ein paar Augenblicke lang nicht rühren. Wie auf Wolken schwebte er nach Hause. Sein Handy hatte er immer recht leise eingestellt und daher nicht gemerkt, dass Mutter ihn bereits dreimal angerufen hatte. Als er aufsperrte, fiel ihm der Fleck auf der Hose ein. Er hoffte, sich umziehen zu können, bevor ihn Mutter sah. Sie aber kam zum Eingang, sobald er den Vorraum betrat: „Warum warst du so lange weg? Warum gehst du nicht ans Handy?“ begrüßte sie ihn ungehalten. Er schaute sie kurz an, drehte sich um und verschwand wortlos in seinem Zimmer. Sie blieb verdutzt stehen, verzog sich dann aber beleidigt in ihr Zimmer und redete den ganzen Abend lang kein Wort mehr mit ihm. Doch das machte ihm nichts aus, nichts konnte seine Stimmung trüben.

 

Am nächsten Tag in die Arbeit zu gehen, stimmte Ludger fröhlich und machte ihn gleichzeitig nervös. Wie würde er sich Marlene gegenüber verhalten? Würde er sie locker, freundschaftlich begrüßen? Würde er wie immer sein diskretes 'Guten Morgen' an alle richten, mit Blick auf sie? Würde er sie verschämt gar nicht anschauen, weil er nicht wusste, ob ihr heute die Vertrautheit von gestern peinlich war? Würde er rot anlaufen, sobald er sie erblickte und annehmen, dass es jeder sofort erkennen würde, wie sehr er sie liebte?

 

Zerstreut setzte er sich an den Frühstückstisch. Es war dies das erste Mal seit Jahrzehnten, dass er sein „Guten Morgen, Mutter, hast du gut geschlafen, hast du schön geträumt?“ vergaß. Sie hatte den Tisch besonders liebevoll gedeckt, hatte sogar frische Kipferln besorgt und lächelnd auf ihren Buben gewartet. Es war ihr peinlich, dass sie am Vorabend so beleidigt gewesen war, schließlich war ihr Sohn erwachsen, war in einem Alter, in dem andere bereits eine eigene Familie hatten, da war es doch normal, abends mit Freunden einen trinken zu gehen. „Guten Morgen, Bub“, murmelte sie irritiert, als er sich ohne ein Wort setzte, ohne sie anzusehen, ja, anscheinend bemerkte er sie gar nicht. Das empfand sie als kränkend, als undankbar. Doch sie sagte nichts weiter. „Was? Hast du etwas gesagt, Mutter?“, erinnerte er sich plötzlich an sie und schaute sie an. Sie war so verblüfft, dass sie nur seinen Blick erwiderte. Er schenkte sich Kaffee ein, strich sich Butter auf sein Kipferl, löffelte Marmelade darauf und aß. Wortlos frühstückten sie, dann stand er auf, küsste Mutter leicht auf die Wange, was sonst nicht vorkam, wie Zärtlichkeiten zwischen ihnen überhaupt selten waren, sagte: „Ba,ba! Bis zum Abend!“ und ging.

 

Im Aufzug stand er mit zwei Kollegen, als Marlene noch dazu huschte. „Guten Morgen!“ grüßte sie. Während die anderen etwas verschlafen ihren Gruß erwiderten und Ludger keinen Ton herausbrachte, wandte sie sich ihm zu und ergänzte: „Grüß dich, Ludger!“ „Guten Morgen, Marlene“, antwortete er mit sanfter Stimme. Die anderen beiden hatten es registriert, dass da wohl etwas mehr Vertrautheit zwischen ihm und ihr bestand, maßen dem aber offenbar keine große Bedeutung bei. Marlene war ja bekannt dafür, mit allen möglichen Kolleginnen und Kollegen zu plaudern. Ludger wurde es fast ein wenig schwindlig. Sie begegnete ihm auch vor den anderen als Freundin, als Vertraute. Dieser wunderbare Abend war also keine Ausnahme gewesen, sie waren einander näher gekommen. Er musste das erst einmal verarbeiten. Am Computer sitzend, ohne auch nur irgendetwas zu registrieren, was der Bildschirm an Daten lieferte, schaffte er aber keinen zusammenhängenden Gedanken. Das einzige, was vor seinem inneren Auge immer wieder entstand, war die Begegnung im Aufzug: „Grüß dich, Ludger!“ Sie seinen Namen aussprechen zu hören, war schöner, als das schönste Lied. Damit war die ganze innige Nähe mit seinem deutlichen Bekenntnis des Begehrens vom Vorabend zur Bestätigung einer neuen Ebene ihrer Freundschaft geworden. Er war einfach nur glücklich.

 

Irgendwann musste er sich aber dazu aufraffen, zu arbeiten. Es ging ihm dann aber erstaunlich leicht von der Hand. Überhaupt wirkte alles leichter, fröhlicher. Ab und zu stand er auf, um Wasser zu holen, oder Kaffee, oder auf die Toilette zu gehen. Er tat das öfter als sonst, um sie dabei kurz zu sehen. Einmal erhaschte er sogar einen Blick von ihr. Zu Dienstschluss ergab sich keine Gelegenheit des Grußes. Eine Kollegin hatte sich an Marlene gewandt, offenbar, um über ein privates Problem zu reden. Sie gingen miteinander weg, Marlene war ganz auf die Kollegin konzentriert. Der Abend war für Ludger wie gewöhnlich; etwas smal Talk mit Mutter, die Nachrichten und den Serienfilm gemeinsam mit ihr. Dass sie irgendwie lauernd und einsilbiger als sonst wirkte, fiel ihm zwar auf, er wusste auch, dass sie sich am Abend zuvor über ihn geärgert hatte, doch das wollte er nun nicht thematisieren. Es war schließlich seine Sache, wie und mit wem er die Abende verbrachte. Deutlicher als sonst wurde ihm bewusst, dass seine Lebensweise doch ein wenig sonderbar wirken musste, vor allem auf eine Frau wie Marlene, die sehr selbstbestimmt und in jeder Hinsicht erfahren wirkte.

 

Also so ein Luder, wie findest du das!“, kommentierte Mutter gerade eine Szene des Films. Er schreckte ganz leicht hoch, war nicht bei der Sache gewesen und hatte für den Bruchteil einer Sekunde angenommen, Mutter rege sich über Marlene auf, weil er sie liebte. Lächelnd gestand er sich aber ein, dass Mutter dann ja seine Gedanken hätte lesen müssen. Trotzdem ließ ihn die Idee nicht los. Was, wenn er tatsächlich eine Frau als seine Partnerin mit nach Hause bringen würde? Was, wenn es sogar Marlene wäre? Nein, nur nicht nach den Sternen greifen! Das würde das süße Glück vielleicht zerstören, das er durch ihre Vertrauen empfand. Er lehnte sich am Sofa neben Mutter zurück und seufzte glücklich. Marlene hatte ihm mehr geschenkt, als er je zu hoffen gewagt hatte. Das musste reichen, um ihn dankbar und froh zu stimmen.

 

In den folgenden Tagen ergab sich keine weitere Begegnung, auch kein Gespräch. Marlene grüßte ihn freundlich wie immer, sogar eine Spur vertrauter, als vor dem gemeinsamen Abend. Allerdings begegnete sie allen Menschen so. Ludger bemühte sich, nichts an Sehsüchten in ihr Verhalten hinein zu interpretieren. Instinktiv spürte er, wie ausgeliefert er bei einer möglichen Fixierung werden könnte. Die Verliebtheit allein war bereits eine neue Sensation in seinem Leben gewesen, dann ihre freundlich unkomplizierte Art, die eine Begegnung erst möglich gemacht hatte, das Halstuch, das sie ihm geschenkt hatte... Was wusste sie von seiner Liebe? Wie weit tolerierte sie sein Schmachten? Wäre sie entsetzt, wenn er sie, ein Mal nur, ganz leicht, auf die Lippen küssen würde? Nichts ersehnte er mehr, als das. Doch nein! Sie würde sich abwenden, würde ihn als unangemessen, taktlos und übergriffig erleben. Er würde ihr ganzes Vertrauen verlieren. „Sei nicht gierig! Freu dich, an dem, was du hast!“, mahnte er sich.

 

Es gibt Neuigkeiten“, flüsterte Marlene nah an Ludgers Ohr. Sie hatte sich mitten in der Arbeit von hinten über ihn gebeugt. Ihn durchfuhr ein heißer, süßer Schrecken. Er wagte nicht einmal aufzublicken. Erstarrt saß er da. „Hast Zeit heut nach der Arbeit?“, flüsterte sie vergnügt weiter. Niemand blickte sich nach den beiden um, niemand dachte an Vertrautheit zwischen Ludger und Marlene, eher an Mitleid ihrerseits, das auch einen schrägen Eigenbrötler wie Ludger ins soziale Gefüge hineinnimmt. Endlich nickte er ganz leicht. „Okay, bis später dann“, sagte sie mit der größten Selbstverständlichkeit. Er hatte wieder ein Date mit ihr. Schwitzend saß er vor dem Bildschirm und erkannte Minuten lang nichts von dem, was darauf zu sehen war.

 

 

Teil 3

 

 

Gemeinsam mit anderen fuhren sie im Aufzug hinunter. „Tschüss! ba ba! Bis morgen!“ Bald blieben nur noch sie beide vor der Firma übrig. „Ich habe etwas mit Patrik ausgemacht!“, eröffnete Marlene noch unterwegs ihre Neuigkeit und wirkte ziemlich aufgeregt. Sie besuchten dasselbe Lokal wie beim letzten Mal. Ludger musste an seinen unfreiwilligen Samenerguss denken, aber auch an Marlenes Nähe, ihren Trost, ihre Tränen. Er spürte leichte Erregung, vor allem aber unendliche Zuneigung, Respekt und Bewunderung für sie. „Du bist so ein guter Zuhörer“, begann sie, sobald sie bestellt hatten. „Bei dir fühle ich mich gut aufgehoben, anscheinend interessiert dich mein Problem, obwohl du dabei außen vor bleibst. Ist es dir nicht unangenehm, wenn ich von Patrik erzähle?“ „Wie könnte mir irgendetwas unangenehm sein, wenn du mir dein Vertrauen schenkst, Marlene“, war seine spontane, ehrliche Reaktion. Sie kicherte. „Du bist wirklich charmant, Ludger, ganz Kavalier der alten Schule.“ Einen Augenblick lang schaute sie ihn an. Ihm war, als meinte sie ihn wirklich mit diesem Blick, als sei da tiefe Erkenntnis seiner Person, als sei da Bejahung seiner Person. Feierlichkeit und Ehrfurcht wärmten ihn von innen, machten ihn froh und mutig.

 

Ich will alles mit dir teilen, möchte dir beistehen können, für dich da sein. Es soll dir nie schlecht gehen, niemand soll dich kränken. Und wenn du glücklich bist mit einem anderen, dann soll das auch mein Glück sein“, bekannte er spontan seine Liebe. Sie errötete leicht und senkte den Blick. „Ich will dir allerdings auch nicht weh tun, wenn du schon so nett meine Probleme mit mir besprichst. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich sei ungerecht zu dir, denn du gehörst nicht zu den Kollegen, mit denen ich nach der Arbeit manchmal etwas trinken gehe, ich weiß kaum was von dir und würde vielleicht meine Freizeit nicht mit dir verbringen, weil du – hm – anders bist, als die Leute, mit denen ich abhänge.“ Sie schaute ihn nachdenklich an. Er verstand gut, was sie meinte, empfand es als liebevoll, dass sie es erwähnte und hätte gerne ihre Hand ergriffen. „Es ist gut, so wie es ist“, sagte er schlicht. Sie lächelte dankbar und erzählte, dass sie nun doch wieder bei Patrik wohnte, dass sie weiterhin als Paar auftreten würden, allerdings mit beidseitigen Freiheiten bezüglich der Sexualpartner. „Weißt du“, schloss sie den Bericht, „Patrik ist ja eh zärtlich zu mir, wir kuscheln beim Fernsehen, wir sind einfach gern zusammen, können stundenlang quatschen, unternehmen am liebsten alles gemeinsam... Ich glaube, das ist ein guter Kompromiss. Er ist nun mal, wie er ist und ich akzeptiere das.

 

Sie schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Ludger fühlte ihre Traurigkeit, die Tapferkeit, mit der sie an dem Kompromiss festhalten wollte, um Patrik nicht zu verlieren. Zunächst sagte er nichts. Die Situation ähnelte ein wenig den langen Gesprächen, die er mit Mutter geführt hatte, wenn er sie als Kind und Jugendlicher trösten musste, weil Vater so kalt und hart zu ihr war, und sie sich nie von ihm auch nur ein wenig wertgeschätzt gefühlt hatte. Tatsächlich hatte er schon sehr früh die Fähigkeit entwickelt, hinter die Kulissen der Menschen zu schauen. Nicht, um sie auszuspionieren, sondern einfach, um sie zu erkennen, zu verstehen. Vielleicht war er deswegen selten Zielscheibe von Hänseleien in der Schule, obwohl er immer ein Einzelgänger gewesen war und immer in seinem Gehabe und seiner Kleidung anders als die anderen. „Kannst du dir denn vorstellen, Erotik mit einem anderen zu erleben, wo du dich doch nach Patriks Zärtlichkeit sehnst?“, fragte er schließlich. Sein Mut, darüber zu sprechen, noch dazu mit Marlene, erstaunte ihn. Für sie war er aber wohl so etwas wie eine beste Freundin, sie wollte dieses Thema besprechen. „Nein, natürlich kann ich mir das nicht vorstellen, du spürst das ganz richtig, Ludger. Aber ich kann mir Patrik als Wunschpartner bewahren, wenn ich es mir selbst besorge. Das wäre doch eine Lösung, was meinst du?“

 

Das Bild vor seinem inneren Auge irritierte ihn. Zu deutlich sah er Marlene vor sich, wie sie wohlig stöhnte, sich berührte, sich der Lust hingab. Er starrte sie an, wollte etwas erwidern, konnte aber nicht. „Du findest das dumm? Aber was soll ich denn sonst machen? Mich interessiert keiner, außer Patrik. Ich liebe und begehre ihn!“, interpretierte sie sein Schweigen. Er atmete zweimal tief durch, nahm einen Schluck von seinem Wein und meinte: „Ich fürchte, du tust dir auf Dauer weh in so einer Beziehung. Vielleicht aber ergibt sich für dich irgendwann eine neue Liebe. Auch wenn du dir das jetzt noch nicht vorstellen kannst.“ „Ich weiß nicht, einerseits wünsche ich es mir, andererseits gibt es in meinen Gedanken, in den Gefühlen und Sehnsüchten wirklich nur Patrik. Er ist der Traummann für mich. In den vier Jahren unserer Beziehung ist meine Begeisterung sogar gewachsen. Ich habe mir richtige Vorwürfe gemacht, weil ich ihn nicht anturnen konnte, weil er bei mir keine erlösende Befriedigung erleben konnte.“ Wieder schaute sie traurig aus dem Fenster. Da läutete leise sein Handy.

 

Oh Gott! Ich habe vergessen, Mutter Bescheid zu geben! - Ja? Mutter? Tut mir leid... nein, alles in Ordnung... nein... ich komme vielleicht in einer Stunde oder so... nein, natürlich esse ich zu Hause. Ja, ich wärme... sei doch nicht so aufgebracht... ich hab's vergessen... das Gespräch hier ist wirklich wichtig! Ja, Mutter, natürlich... wir reden später... sei nicht bös, ja. Schönen Abend, bis dann!“ Marlene beobachtete ihn mit offenem Mund. Er war ganz aufgeregt, wirkte wie ein ertapptes Kind, war sogar etwas errötet. „Du bist ja ein komischer Kauz mit deiner Mutter und so! Ehrlich, wenn ich mittlerweile nicht wüsste, wie aufmerksam und diskret du bist, würde ich glauben, du bist ein Freak“, entfuhr es Marlene, als er aufgelegt hatte. „Übrigens!“, fuhr sie fort „du erzählst deiner Mutter aber nichts von meinen Problemen?!“ „Natürlich nicht!“ er lächelte. „Sie wollte nur wissen, mit wem ich beisammen bin. Keine Sorge, betrachte mich als deinen Seelsorger.“ „Als was?! Wie kommst du denn darauf? Ich betrachte dich einfach als guten Freund.“ Unwillkürlich fasste er nun ihre Hand. „Marlene!“, flüsterte er und kämpfte mit den Tränen. Freund hatte sie ihn genannt. Er war zutiefst ergriffen. Sie nahm seinen sanften Händedruck wahr, bemerkte die Tränen in seinen Augen, die sanfte Stimme der Zuneigung, seine Ergebenheit. Da konnte sie nicht anders, es war in ihren Augen Mitgefühl, als sie sich zu ihm beugte und ihm einen zarten Kuss auf die Lippen gab. Er schloss die Augen und verharrte still, mehrere Sekunden, dann neigte er sich und küsste innig ihre Hand. Danach blieben sie Hand in Hand sitzen und sprachen nicht mehr. „Ich bin dir so dankbar für dein Vertrauen, Marlene. Du ahnst nicht, wie sehr du mich bereicherst!“ bekannte er schließlich. Sie hatte nachdenklich auf ihre verschlungenen Hände geschaut, hob aber nun den Blick. „Ich danke dir auch, Ludger. Ich danke dir“, antwortete sie leise. Dann brachen sie auf.

 

Ludger wunderte sich, dass er nicht beschwingt und glücklich war, wie nach ihrem letzten Treffen. Er war nachdenklich und so berührt, dass er nicht wusste, was er denken sollte. Ihm war, als habe er ein unsagbar kostbares Glasgefäß in Händen, das aber so hauchdünn war, wie Seifenblasen. Marlene vertraute ihm, das durfte er nicht durch eigene Gefühle verletzen. Er durfte sie nicht verlieren. Nie wollte er ihr wehtun, wo sie doch ohnehin gerade eine schwere Zeit durchmachte und ihre Liebe auf eine so harte Probe gestellt sah. Wie sollte er ihr sagen, dass sie zwar in Patrik einen guten Freund, aber nicht ihren Partner erleben würde, wie sehr sie sich auch bemühte. Andererseits, was wusste er schon von Beziehungen? Nichts. Er wollte ihr helfen und war doch selbst hilfsbedürftig.

 

Als er leise die Wohnung betrat, saß Mutter im Wohnzimmer und schaute fern. „Guten Abend, Mutter!“ rief er so locker wie möglich. Sie antwortete nicht. Er schlüpfte in die Hausschuhe und ging zu ihr. „Guten Abend!“, widerholte er den Gruß. Sie wandte sich ab und gab keinen Ton von sich. „Aber Mutter, sei doch nicht so. Gönn mir doch mal einen netten Abend mit anderen!“, versuchte er sie zu beschwichtigen. Da sah er, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Dieser Anblick versetzte ihm einen stechenden Schmerz im Magen. Er hatte Mutter trotz aller Traurigkeiten erst sehr selten weinen sehen. Bestürzt setzte er sich zu ihr und versuchte sie zu umarmen, doch sie wehrte sich. Berührungen oder gar Umarmungen waren seit jeher nicht üblich, obwohl sich Ludger oft danach gesehnt hätte, vor allem von Mutter. Ein kleiner Kuss auf die Wange, als er noch zur Schule ging, ein Streicheln durchs Haar, eine Umarmung als Trost nach einer verpatzten Prüfung oder als Ausdruck der Freude bei guten Noten, nichts dergleichen wurde ihm zuteil, wie es auch zwischen den Eltern keinerlei erkennbare Zärtlichkeiten gegeben hatte. Fürsorglichkeit und Umsicht waren Mutters Art, Zuneigung zu zeigen. „Sei doch bitte nicht traurig!“, bat er. Gern hätte er ihre Hand genommen, aber nach der abgelehnten Umarmung hatte er nun Scheu, das zu tun. Ihm wurde bewusst, dass es ihm sogar leichter fiel, Marlenes Hand zu halten, als die seiner Mutter. So blieb er einfach bei ihr, bis sie tonlos sagte: „Iss jetzt.“ Wortlos gehorchte er. Als er „gute Nacht“ ins Wohnzimmer rief, war sie bereits zu Bett gegangen.

 

Nach und nach entstand zwischen Ludger und Marlene eine Vertrautheit, die ihn und sein Image in der Firma veränderte. Bei Kaffeepausen standen sie beisammen und scherzten, andere gesellten sich dazu. Ludger wurde wie selbstverständlich zum Abfeiern nach Dienstschluss eingeladen und ging sogar ab und zu mit. Zwar beteiligte er sich selten an den Plaudereien, aber die wenigen Äußerungen von ihm waren von so trockenem und scharfsinnigem Humor, dass er alle verblüffte. Beim allgemeinen „Guten Morgen“ der Kollegen streifte der Blick nun auch ihn. Ludger registrierte all das, wie er immer das Verhalten der Menschen bis ins kleinste Detail registrierte. Es war ihm bewusst, dass sich sein soziales Umfeld und seine Kommunikationsmöglichkeiten erweiterten. Noch bewusster war ihm, dass er all das Marlene zu verdanken hatte. Seine Liebe zu ihr war so rein und so tief, dass er manchmal glaubte, sie in seiner irdischen Realität nicht verkraften zu können.

 

Neben diesen wunderbaren Veränderungen blieb es ihm aber nicht verborgen, dass Mutter sie ebenfalls registrierte, allerdings mit einem dunklen Schleier der Trauer, der sich immer mehr verdichtete. Die Verlustangst um die gemütliche Vertrautheit mit ihm, ließ sie still und ein wenig gebeugt werden. Sie kritisierte ihn nicht, denn sie wusste, dass ihr Sohn eigentlich ein eigenständiges Leben mit eigenem sozialem Umfeld führen sollte, doch die Zweisamkeit mit ihm, diese gemeinsame Abschottung vor der feindlichen Welt, war zu schön für sie. Warum sollte das alles nun plötzlich vorbei sein? Für Ludger war dieses stille Erdulden schlimmer, als offene Kritik. Je glücklicher er wurde, desto bedrückter erlebte er Mutter. Er registrierte es mit Sorge, doch das Glück über Marlenes Freundschaft und auch die Anerkennung durch Kollegen war so groß, dass er sich dem nicht entziehen konnte, es auch nicht wollte.

 

Patrik kam nur noch selten zu den Treffen. Ludger beobachtete ihn und Marlene, ihren Umgang miteinander, kleine Zärtlichkeiten, das fröhliche Plaudern mit anderen. Tatsächlich strahlten sie Harmonie und Glück aus. Da er Marlene nun aber recht gut kannte, bemerkte er ihre leichte Überdrehtheit bei solchen Gelegenheiten. Es war ihr offenbar wichtig, Glück und Harmonie zu demonstrieren. Ludger erkannte ihren Schmerz, nicht in allen Belangen Patriks Partnerin sein zu können. Er wünschte ihr aus tiefster Seele ganzheitliches Glück.

 

Nach einem dieser Treffen begleitete Luger Marlene bis zur Wohnung. Sie waren so sehr ins Gespräch vertieft gewesen, dass sie es kaum merkten, wie sich alle nach der Reihe verabschiedeten, wie er sie zur U-Bahn brachte, mit ihr einstieg und ausstieg, er wieder einmal Mutter nicht verständigt hatte und das Handy auf lautlos war. Sie standen vor ihrem Haus. Er wollte sich nicht verabschieden, wollte diese gemeinsamen Momente verlängern, die Zeit zum Stillstand bringen. „Wartet Patrik oben schon auf dich?“, fragte er. In diesem Fall hätte er sie nicht länger in Gespräche verwickelt. Was sie wollte, war für ihn ein Anliegen. Ihr sollte es gut gehen, das war seine Maxime. „Nein, er ist bis morgen mit der Gang unterwegs. Wenn ich ehrlich bin, fürchte ich ein bisschen das Hinaufgehen in die leere Wohnung. Mir kommt mein Beziehungsleben ohnehin schon so unwirklich vor, aber in die Wohnung zu kommen und allein zu sein, macht mir die ganze Situation noch unerträglicher.“ Sie schaute ihm in die Augen, als erwarte sie etwas von ihm. Er wünschte sich nur eins: bei ihr zu bleiben, mit ihr hinauf in die Wohnung zu gehen. Da er es sich aber so sehr wünschte, wagte er es erst recht nicht, darum zu bitten. Es kam ihm vermessen vor. „Magst mit hochkommen? Du kennst unsere Wohnung ja noch gar nicht?“, fragte sie locker und unbefangen. Er nickte nur.

 

Wie ferngesteuert ging er hinter ihr her. Im Vorraum zogen sie sich die Schuhe aus, er hängte seine Jacke neben ihre, sie zeigte ihm das Wohnzimmer, die Bilder an den Wänden, erzählte einiges über die Möbel, die großteils Antiquitäten waren. Er ging herum und versuchte, die Stimmung der Wohnung wahrzunehmen. Doch es ergab sich für ihn kein Bild dazu. Auf ihn wirkte vieles wie eine Kulisse, Schaustücke ohne Inhalt, der Versuch, Leben auf eine Bühne zu bringen. Da merkte er, dass diese Stimmung das Bild ihrer Beziehung war. Es war ein Bühnenstück mit Patrik als Regisseur. Marlene bemühte sich, Begeisterung in sich zu erzeugen, wenn sie auf Dinge verwies, die Patrik wichtig waren oder auf Urlaubsfotos. Verzweifelt versuchte sie, an dieses Theaterstück zu glauben, es als Wirklichkeit zu inszenieren. Ludger ertrug ihren verdrängten Schmerz dahinter kaum noch. Plötzlich, mitten in ihrem Satz, fasste er mit beiden Händen ihr Gesicht und schaute sie an. Überrascht verstummte sie. Ihr Blick bildete eine Brücke von Seele zu Seele. Langsam neigte er sich zu ihr und küsste sie zart auf den Mund. Sie verharrten in diesem unschuldigen Kuss, er fühlte, dass er sich nie wieder von diesen Lippen würde lösen können.

 

In Marlene öffneten sich aber unerwartet alle Schleusen der Entsagung und der Sehnsucht. Sie spürte seine behutsamen Hände, die ihr Gesicht so liebevoll umschlossen, seine weichen Lippen lagen sachte auf den ihren und ihr ganzer Körper rief nach seiner Männlichkeit, nach seiner Zärtlichkeit, nach seiner Liebe. Gierig, fiebrig umschlang sie ihn, nahm ihn mit Händen und ihrem sanften Druck gegen seine Lenden in Besitz. Vorsichtig öffnete sie die Lippen, begrüßte seine Zunge und spürte wie Lava die Lust in sich brodeln. Er seufzte leise, drückte sie an sich und erwiderte ihren Kuss innig, verzückt, ewig. Ganz entfernt im Hinterkopf wusste sie, dass es für ihn der erste Kuss seines Lebens war. Doch was für ein Kuss! Alle Zärtlichkeit, alle Liebe spiegelte sich darin. Sie konnten nicht voneinander lassen, jede kleinste Berührung, jeder Seufzer der Lust stachelte sie aufs Neue an. Sie spürte seine Erregung, erlebte seine Leidenschaft und wollte nur noch ihn, jetzt und ganz für sich. Die Gedanken verschwanden, es gab nur noch Wonne und Einheit, es gab nur noch Liebe, nur noch das beglückende Jetzt.

 

Sie blieben die ganze Nacht beisammen, schliefen zwischendurch und erwachten in erneuten Umarmungen. Ludger fühlte sich wie im Himmel und hatte gleichzeitig das Gefühl, als sei es das Vertrauteste und Selbstverständlichste der Welt, dieses Fest der Freude mit Marlene zu feiern. Er ging auf sei ein, koste und beglückte sie, genoss ihre Schönheit und ihre Hingabe als der perfekte Geliebte. Hier fühlte er sich, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben, ganz und gar als er selbst. Marlene staunte so sehr über ihn, über seine sanfte und doch drängend leidenschaftliche Zuwendung, über seine handelnde Liebe, die in jeder kleinsten Geste, in jedem Kuss nur heiligen Respekt bekundete. Nie, niemals hätte sie es für möglich gehalten, doch es war unleugbare Tatsache: sie liebte und begehrte Ludger. Er schenkte ihr alles, wonach sie sich immer schon gesehnt hatte. Immer wieder mitten in diesem Fest der Sinne wurde sie plötzlich still betrachtete staunend und voll zärtlicher Liebe sein Gesicht. Der Intellekt konnte es nicht fassen, aber alles in ihr verkündete: dieser Mann ist deine Zukunft. Dieser Mann ist dein Glück.

 

Gerade noch rechtzeitig um zu duschen, das Gewand zu wechseln und mit Mutter zu frühstücken, kam Ludger zu Hause an. Mutter hatte ihm den Anzug und die Krawatte hingelegt, die er bei Vaters Beerdigung getragen hatte. Dazu das perfekt gebügelte weiße Hemd. Es war ihre Art zu zeigen, wie gekränkt sie war, dass er die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen war und nicht einmal angerufen hatte. Für gewöhnlich hätte ihn diese Geste zutiefst erschüttert, doch dafür war er zu glücklich. Im Gegenteil, deutlicher als jemals zuvor erkannte er, wie unpassend es war, sich mit 43 Jahren das Gewand von Mutter herrichten zu lassen. Kurz entschlossen schlüpfte er in eine helle Stoffhose und ein kariertes Hemd. Wie verwegen! Zufrieden betrachtete er das in seinen Augen freche Outfit, sein strahlendes Gesicht, und fühlte sich um Jahre jünger. Mutter musterte ihn mit Missfallen, doch er schlang die Arme um sie und küsste sie auf beide Wangen. „Heute ist der schönste Tag in meinem Leben, Mutter!“, verkündete er gut gelaunt. „Oh mein Gott! Was hast du angestellt?“, entfuhr es ihr. Ludger lachte. „Ich liebe Marlene und sie liebt mich! Ich bin so unsagbar glücklich, Mutter! Das lässt sich gar nicht in Worte fassen!“ Er langte kräftig zu, nahm sich die zweite Tasse Kaffee, strahlte Mutter an, obwohl diese wie versteinert dasaß, kein Wort über die Lippen brachte und auch nicht frühstückte.

 

Tagsüber tauschten Marlene und Ludger zärtliche SMS aus, nach der Arbeit gingen sie in „ihr“ Lokal, denn Patrik war zu Hause. Immer wieder küssten sie einander, besprachen, wie es nun weitergehen solle und wiederholten bei jeder Gelegenheit, wie überrascht und glücklich sie waren. „Wirst du mein Geliebter sein, während ich mit Patrik zusammenbleibe? Oder werde ich überhaupt ein neues Leben beginnen – mit dir?“, fragte sie gerade heraus. „Alles bin ich für dich, solange du mir die Freundschaft hältst. Das Bekenntnis deiner Zuneigung ist alles, was ich brauche!“, schmachtete er. „Ah, und Sex brauchst du nicht? Nur die freundschaftliche Zuneigung?“ scherzte sie. Er aber wurde ernst, nahm ihre Hände und schaute sie lange an. „Marlene, du ahnst nicht, was du mir gibst. Mit deiner Liebe öffnest du mir eine neue, reiche Welt. Ich habe das Gefühl, aus dem Kerker in die Freiheit zu kommen durch deine zärtliche Liebe. Ich will dafür sorgen, dass es dir immer gut geht, niemals werde ich dich kränken. Dein Wohl ist mir das erste Anliegen. Ich liebe dich, Marlene!“ Sie war ergriffen und erwiderte aus ganzem Herzen: „Und ich liebe dich, Ludger.“

 

In den darauffolgenden Wochen vertieften sich der Kontakt und die Vertrautheit zwischen ihnen. Marlene beschloss, sich eine eigene Wohnung zu suchen, sie erzählte Patrik von Ludger. Er war sehr traurig, verstand aber ihren Standpunkt, eine ganzheitliche Beziehung leben zu wollen. Was er aber gar nicht verstand, war die Wahl ihres neuen Partners. Sie beide hatten mehrere Freunde, die Single waren und weit besser zu Marlene passten, als dieser schrullige, farblose Ludger. Sie wurde von verschiedenen Kollegen und Freunden bewundert, vielleicht sogar begehrt. Warum also ausgerechnet dieser Ludger?! Sie konnte es ihm nicht erklären, verstand es ja selbst nicht ganz, aber sie war bis über beide Ohren verliebt. Jetzt erst erkannte sie, wie bedrückend die Situation mit Patrik für sie gewesen war. In der Firma wollte sich Marlene trotz allem nicht offen zu Ludger bekennen, solange sie noch bei Patrik wohnte. Auch ihm war das recht, denn Mutter kränkelte, wurde immer einsilbiger und hatte oft verweinte Augen. Er hatte bereits aufgehört, ihr von Marlene zu erzählen, weil sie das so bedrückte. Es hätte ihn psychisch überfordert, nach aussen hin die Beziehung zu bekennen, während seine Mutter darunter litt.

 

Als Marlene einige Wochen später mit einem günstigen Wohnungsangebot kam und vorschlug, mit Ludger zusammen zu ziehen, wurde ihm das erste Mal seit dem überwältigenden Liebesglück etwas bang. „Und was ist mit Mutter? Ich kann sie doch nicht alleine lassen“, gab er zu bedenken. Sie lachte hell auf, weil sie glaubte, er scherze. Als sie aber merkte, dass er es ernst meinte, war sie zunächst sprachlos. Langsam wurde ihr bewusst, dass sie ihm nur gerecht werden konnte, wenn sie dieses sonderbare Mutter Sohn Verhältnis ernst nahm. Mittlerweile liebte sie ihn zu sehr, um Bedingungen zu stellen, wie sinnvoll sie ihr auch schienen. Ludger war sich ihres Verständnisses bewusst und sogar dessen, wie unerwachsen dieses Naheverhältnis mit seiner Mutter war. Doch er konnte nicht aus seiner Haut heraus. Eine Liebe für die andere aufzugeben, hätte in seinen Augen beide zerstört. So fanden sie den Kompromiss, die Beziehung in getrennten Wohnungen zu leben. Marlene konnte sich deswegen zwar nur etwas sehr Kleines leisten, doch Ludger verbrachte zunehmend mehr Abende bei ihr, als bei Mutter.

 

Dann kam die Urlaubsplanung. Ludger und Marlene wollten gemeinsam wandern gehen, wollten mindestens eine Woche im Stück miteinander verbringen. Er erzählte Mutter davon und war zuversichtlich. Bei seinen bisherigen Wanderungen hatte sie ihn ja auch nie begleitet und die üblichen gemeinsamen Tage in der Therme würden sich ja trotzdem noch ausgehen. Mutter saß wie versteinert vor ihm. Sie war blass und etwas dünner geworden, seit Marlene in sein Leben getreten war. Auch ihre Haltung wirkte gebückter, die Stimme brüchig, ohne Elan. „Du verbringst deinen Urlaub mit diesem Weib. Du entweihst die Berge, indem du dein Gspusi dorthin mitnimmst. Du setzt die Wollust über das Wohl deiner Mutter. Bedenkst du denn gar nicht, wie es mir geht?“, sagte sie kraftlos, ohne ihn anzublicken. Ludger starrte sie an. Es war ihm, als habe er Mutter seit Wochen nicht gesehen und als würde er sie nun geschwächt und krank wieder treffen. „Warum bedrückt dich meine Liebe so? Freust du dich denn nicht mit meinem Glück? Willst du Marlene nicht wenigstens mal kennen lernen? Bestimmt wirst du sie mögen!“, versuchte er sie zu überzeugen. „Wie kann ich jemanden mögen, der mir das einzige Glück im Leben wegnimmt?“, fragte sie bitter. „Ach, sei doch nicht so! Habe ich nicht das Recht zu lieben?“ Sie schaute ihn lange mit feuchten müden Augen an. „Wenn es doch Liebe wäre, dann würde ich nicht leiden, Kind. Aber ich kenne dich und spüre, dass es reine Wollust ist, dass diese Frau dich benutzt und dann ausgelaugt wegwerfen wird. Hat sie das nicht schon mit anderen gemacht? Du bist doch nur ein Spielzeug für sie. Sie weiß nicht einmal, was sie alles zerstört.“ Eine Träne löste sich aus dem linken Auge. Still lief sie über Mutters blasse Wange.

 

Auch Ludger bekam feuchte Augen. Er wollte die Mutter umarmen, doch sie wehrte es ab, stand wortlos auf und ging zu Bett. Erschüttert blieb er zurück. So viel hätte er noch erklären wollen, hätte sagen wollen, dass Marlene das Beste sei, das er je erfahren hatte, doch seine Gedanken hatten ein Blackout, seine Gefühle waren gerade auf Eis gelegt. Er fühlte sich leer, versteinert, leblos, wie eingemauert in eine Wand zwischen Marlene und Mutter.

 

Als er sich wieder etwas gefangen hatte, rief er Marlene an. Über zwei Stunden redeten sie miteinander, Ludger erzählte und erzählte. Angefangen von der Kindheit, von der trüben Stimmung mit seinem Vater und der einsamen Schulzeit berichtete er sogar über seine Liebe zu ihr vom ersten Tag an, da sie in die Firma gekommen war. Marlene war gerührt und zeigte sich verständnisvoll, was den Abschiedsschmerz seiner Mutter betraf. Reif fand sie ihr Verhalten zwar nicht, aber ausgehend von der bisherigen symbiotischen Mutter Sohn Bindung zumindest verständlich. Sie einigten sich darauf, nur eine kleine Tour von drei Tagen zu machen, damit Ludger mehr Zeit mit Mutter verbringen konnte. Trotzdem war für ihn ein Schatten in die Beziehung gekommen. Er hatte Mutter nur in schlimmsten Nöten mit dem Vater so traurig erlebt. Sollte er ihr nun auch solch schlimmen Schmerz zufügen? War es nicht auch schön gewesen, Marlene im Stillen zu verehren? Das hatte Mutter nicht so sehr bedrückt, eigentlich gar nicht, denn das hatte sie ja nicht gemerkt. Und Marlene, die so beliebt war und oft mit den Kollegen scherzte, während er abseits stand, würde sie ihn nicht bald für einen interessanteren Mann verlassen, einen wie Patrik, allerdings hetero? In der Firma hatten sie beide nach wie vor nicht bekannt gegeben, dass sie zusammen waren. Schämte sie sich seiner? Zweifel begannen sich in Ludger breit zu machen.

 

Natürlich verschwanden diese, sobald er Marlenes Lächeln sah, ja sogar, wenn er sie nur von Ferne erblickte und sie ihn nicht mal bemerkte. Sie trafen sich oft in ihrer Wohnung. Ihre Leidenschaft nahm eher zu, statt abzukühlen. Es gab Tage, da konnte Ludger kaum klar denken, so groß war sein ständiges Verlangen nach ihr. Am deutlichsten spürte Mutter, wie abgelenkt, wie verändert er war. Sie machte sich große Sorgen um seine geistige und moralische Gesundheit, sagte aber selten und dann nur ganz wenig dazu. Doch gerade das drang besonders in sein Herz. Er konnte ihr stilles Leiden kaum noch ertragen, ebenso wenig das ständige Kino im Kopf, das seine Sehnsucht nach Marlenes Zärtlichkeit hervorrief.

 

 

Teil 4

 

 

Die kurzen Urlaubstage in den Bergen aber waren das reinste Paradies. Schweigend oder plaudernd genossen sie die Natur, die gute Luft, das Beisammensein. Marlene fühlte sich richtig in ihrer Mitte angekommen durch die Liebe, durch Ludgers feinfühlige Aufmerksamkeit, seine anerkennenden Worte, seine Blicke. Allerdings bedrückten ihn die täglichen Telefonate mit Mutter, weil diese anscheinend erkrankte, sobald er mit Marlene in den Bergen angekommen war. Bei der Heimreise wirkte er abwesend und ungewohnt hektisch. „Mutter will sich im Spital behandeln lassen, sie meint, es gehe mit ihr dem Ende zu“, sagte er bedrückt. Tränen liefen ihm über die Wangen. Marlene zerfloss vor Mitleid, aber mehr für ihn, als für die Mutter. „Soll ich fahren?“, bot sie an, doch er lehnte ab. Tatenlos am Beifahrersitz zu warten, wäre noch schlimmer für ihn gewesen.

 

Wieder in Wien verabschiedete er sich zerstreut von Marlene. Sofort fuhr er zu Mutter. Sie war zur Beobachtung im Krankenhaus, man hatte allgemeine Schwäche, niederen Blutdruck, etwas Eisenmangel und vor allem eine depressive Verstimmung diagnostiziert. Blass und traurig blickte sie ihm entgegen. Er beugte sich, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben, doch sich wandte sich ab und vermied nun auch den Blickkontakt. Hilflos stand er am Bett, kein Wort kam über seine Lippen, doch im Hals bildete sich ein Druck, dass glaubte, ohnmächtig zu werden. Seit er mit Marlene so glücklich war und immer mehr Zeit mit ihr verbrachte, hatte sich Mutter immer mehr zurückgezogen, hatte kaum noch mit ihm gesprochen, war immer antriebsloser und trübsinniger geworden. Ludger hatte diese Anzeichen verdrängt, hatte gehofft, sie würden verschwinden, hatte davon geträumt, dass Marlene und Mutter Freundinnen werden könnten. Marlene kam ja mit jedem Menschen gut aus. Mutter hatte sich aber stets geweigert, „dieses Weib“, wie sie Marlene nannte, kennenzulernen.

 

Er kam sich wie ein Verräter vor. Hatte er tatsächlich nur wegen seiner eigenen Lust und Genusssucht Mutters Liebe verraten? Wog die Beziehung zu Marlene mehr, als die lebenslange Liebe seiner Mutter? Würde nicht bald ein neuer „Patrik“ kommen und ihn, Ludger, aus Marlenes Leben drängen? Ihm war bewusst, dass sie beide grundverschieden waren. Marlenes Liebe und Zärtlichkeit schien ihm oft wie ein unwirklicher Traum. Irgendwann musste er daraus erwachen. Und wenn es dann zu spät war für Mutter? Wenn die Enttäuschung, von ihrem Sohn so vernachlässigt worden zu sein, sie aller Lebenskraft berauben würde? Tausende solcher Gedanken tobten wie Dämonen in ihm. Es wurde ihm schwindlig und übel. Vorsichtig legte er seine Hand auf ihre dünne, zerbrechlich wirkende. „Mutter, sprich doch mit mir, bitte!“, bat er.

 

Langsam wandte sie ihm das schmale, blassgraue Gesicht zu. Ihre Augen wirkten trüb und leer. „Bub, wenn du nur einen Augenblick da bist, bevor es zu spät ist“, sagte sie kraftlos. Da schossen ihm die Tränen aus den Augen. Mit beiden Händen umschloss er ihre und weinte. „Ich lasse dich nie im Stich, das weißt du doch, Mutter!“, jammerte er. Sie sagte nichts, reagierte auch nicht, sondern schaute nur leer vor sich hin. „Was kann ich denn tun, damit es dir besser geht?“, bat er und wartete lange auf eine Reaktion. „Ach lass nur, ich weiß ja, dass ein Mann sowas braucht...“ Sie wandte sich wieder ab, doch er spürte, dass sie noch etwas sagen wollte. Aber es kam nichts mehr. „Nur weil ich Marlene liebe, weil ich endlich eine Frau liebe und sie mich – was für ein Wunder! - deswegen lasse ich dich doch nicht im Stich, Mutter!“, beteuerte er. Verzweifelt hatte er das Gefühl, als würde sie ihm unter den Händen wegsterben. „Natürlich glaubst du, es sei Liebe. Dein Herz ist zu rein für diese schmutzige Welt, mein Kind. Doch es sind Irrwege, die Menschen wie diese Marlene gehen. Und sie ziehen dich da hinein. Sie denken nur an sich, nur an Äußerlichkeiten. Was wirklich zählt, die Reinheit des Geistes, die Liebe Gottes, das beachten diese nicht. Und nun wirst du auch so, mein armes Kind. Dein Herz war rein, wie das eines Priesters und nun ist es befleckt, ist fehlgeleitet.“ Verbittert presste sie die schmalen Lippen aufeinander.

 

Ludger war sehr betroffen. Er war zwar Christ, besuchte auch mit seiner Mutter sonntags die Messe, aber irgendwie war das eine andere Welt für ihn, als die in der Firma und vor allem als die freudig sinnliche Welt mit Marlene. „Aber Mutter, ich mach doch nichts Böses, im Gegenteil, es ist so wunderbar, Marlene zu lieben! Und ihre Liebe zu mir ist das Schönste, das ich je erleben durfte!“, versuchte er mutig, wenn auch kleinlaut, zu erklären. Mutter riss die Augen auf und bekam einen Hustenanfall. Ludger läutete nach der Schwester. Diese gab ihr zu trinken und meinte, dass sie mehr essen und vor allem mehr trinken solle. Freundlich lächelte sie ihm zu und ging wieder. „Du bist diesem Weib hörig und verkaufst dein Seelenheil. Schon bist du in ihrem Netz gefangen. Nicht einmal meine Not lässt dich noch die Wahrheit erkennen“, hauchte Mutter tonlos und ehrlich entsetzt. „Aber Mutter...“, versuchte er sich zu verteidigen, es fiel ihm jedoch nichts ein. „Bitte, verstoß mich doch nicht, nur weil ich endlich mein Glück gefunden habe“, bat er schließlich, fühlte sich aber als Sünder, verräterisch, niederträchtig, weil ihm sein Glück wichtiger war, als das seiner Mutter, die immer alles für ihn getan hatte.

 

Vielleicht gibt es noch Rettung“, meinte sie endlich. Ihre Stimme wurde immer brüchiger, kraftloser. „Was soll ich tun?“, klammerte er sich an diese angedeutete Hoffnung. „Sprich mit dem Seelsorger hier, er besucht mich täglich und ist ein tief spiritueller Priester, ein treuer Diener Gottes. Lass dich von ihm beraten. Bitte, Bub, für dein Seelenheil, bitte sprich mit ihm!“ Mit der ganzen Kraft, zu der sie fähig war, flehte sie und blickte ihn mit bittenden Augen an. Ihm brach fast das Herz, trotzdem sagte er: „Ich glaube nicht, dass Gott eine so schöne Liebe verurteilt, Mutter. Aber dir zuliebe werde ich mit dem Priester hier sprechen. “ Dann blieb er noch bei ihr, las ihr aus der Bibel vor, besprach, was sie unternehmen würden, wenn sie wieder nach Hause käme und dass er darauf achten würde, täglich mit ihr einen Spaziergang an der frischen Luft zu machen. Sie taute ein wenig auf, trank ab und zu einen Schluck Tee und lächelte manchmal sogar. Als er sich recht erleichtert verabschiedete, drückte sie seine Hand und bat: „Bitte, Bub, kontaktiere nicht diese Frau, bis du mit dem Priester gesprochen hast, bitte, du musst es mir versprechen, es ist wirklich wichtig. Später wirst du es verstehen, du wirst mir noch dankbar sein. Ich weiß, es fällt dir jetzt schwer, aber es muss sein, es muss wirklich sein!“ „Aber Mutter! Das geht doch nicht, wie könnte ich sie so vor den Kopf stoßen, das kann ich nicht tun!“, stotterte er perplex über solch eine Forderung. „Mein armes Kind, ich meine es ja nur gut mit dir!“ Ihre Stimme wirkte weinerlich und schwach. „Schau, wenn sie deinen Glauben und dich mit deiner ganzen Persönlichkeit respektiert, wird sie diese Prüfung bestehen. Wenn nicht, würdest du sie ohnehin bald an einen anderen verlieren.“

 

Eine Schwester mahnte, dass die Besuchszeit zu Ende sei. Ludger nickte, schaute Mutter lange an und sagte: „Gut, ich werde so bald wie möglich mit dem Priester sprechen.“ Dann ging er, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Er wusste nicht, was falsch und richtig war, er wusste nicht, ob man Liebe gegeneinander ausspielen konnte, ob er sich überhaupt zwischen Marlene und Mutter entscheiden sollte. Müsste er nicht ohnehin längst eine eigene Familie haben? Aber so war es eben nicht. Er war Mutters Lebensmittelpunkt und diese treue Liebe konnte und durfte er nicht verraten. Marlene war für ihn Lebendigkeit, Freude, Glück. Aber für wie lange? Könnte er es verkraften, von ihr verlassen zu werden? Sollte er sich davor nicht schützen? Verwirrt ging er nach Hause, lümmelte sich auf die Couch und starrte im dunklen Wohnzimmer ins Leere. Als es bereits stockfinster war, ging er ins Bad, um sich für die Nacht fertig zu machen. Da bemerkte er, dass Marlene vier Mal bei ihm angerufen hatte. Sein Handy hatte er im Krankenhaus auf lautlos gestellt. Er starrte darauf, was sollte er tun? Der erste Impuls war, sie anzurufen. Doch das gegebene Versprechen einfach zu brechen, schaffte er nicht. Er stand geschlagene zwanzig Minuten vor dem Bad und starrte auf das Handy. Je länger er zögerte, desto quälender wurde der Konflikt in ihm. Da tippte er, ohne weiter nachzudenken ins Handy: „Ich melde mich, wenn es Mutter besser geht. Bitte versteh. Dein Ludger.“

 

Als Marlene auf die Mailbox sprach, dass ihm ein Gespräch bestimmt mehr helfen würde, als dieses unlogische Schweigen und ihm dann auch noch mehrere SMS schickte mit zärtlichen Aufmunterungen und sehnsuchtsvollen Anspielungen, glaubte er fast, den Verstand zu verlieren. Wäre er nicht zu Hause gewesen, wo ihn alles an Mutter erinnerte, wäre auf der Stelle zu Marlene gefahren. Es schmerzte dumpf im ganzen Körper und lähmte ihn, so groß war sein Verlangen und auch der Gedanke, ihr mit seinem Schweigen weh zu tun. Er hoffte fast, dass ihre Liebe nicht allzu tief war, damit sie möglichst leicht darüber hinwegkommen würde, von ihm so grausam ignoriert zu werden. Und das nach den schönsten Tagen seines Lebens. Sie hatten so viel Spaß miteinander gehabt, mit Marlene lachte er mehr als jemals zuvor. Schweigend hatten sie das Alpenglühen bewundert, die kleinen schönen Blumen auf den Alpenwiesen, die Berge. Immer wieder hatten sie einander umarmt, ihre Küsse wollten nicht enden. Marlene, mit all ihrer Selbstsicherheit und manchmal lustig herausfordernden Art, wurde in seinen Armen zum sanften anschmiegsamen Lamm. Wiederholt hatte sie gesagt, dass ihr Leben durch ihn eine ganz neue Wendung bekommen habe. Und in den glücklichen Stunden der Leidenschaft hatten sie einander Treue und bleibende Liebe geschworen. Lange Minuten blickte sie ihn dann ehrfürchtig an, voll Respekt und Glück. Und er blickte sie ehrfürchtig an, voll Respekt und Glück. Seine Hände suchten die Freude, sie zu spüren, seine Hände bereiteten ihr Freude. Und sie ihm, mit ihrer ganzen Liebe.

 

Ludger lag die ganze Nacht wach, schwelgte einerseits in diesen wunderbaren Erinnerungen und quälte sich andererseits wegen des Versprechens an Mutter. Da er noch Urlaub hatte, suchte er am folgenden Tag den Seelsorger des Krankenhauses auf, sobald dieser Zeit für ihn hatte. Er war bereits von Mutter auf das Gespräch vorbereitet, ließ Ludger aber seine Sicht der Dinge schildern. Natürlich betonte er die Liebe zwischen ihm und Marlene, verschwieg aber nicht, dass er Mutter vernachlässigt hatte, seit er diese Beziehung lebte. Der Priester, ein Mann von ungefähr siebzig Jahren, ging nicht darauf ein, sondern fragte nach Ludgers Gebetsgewohnheiten, danach, wann er die letzte heilige Beichte besucht habe und ob er sich imstande fühle, weiterhin für seine Mutter zu sorgen, die ja ein Leben lang für ihn gesorgt habe. Etwas betreten musste Ludger bekennen, dass weder Gebet noch Beichte ein Schwerpunkt in seinem Leben seien, dass er Mutter aber nie im Stich lassen würde. „Wann gedenken Sie, diese Verbindung im Sinn der Kirche zu legalisieren, da Sie ja offenbar in sündhafter Weise miteinander verkehren?“, fragte der Priester und versuchte mit sanfter Stimme die Strenge dieser Frage etwas zu mildern. „Darüber haben wir noch nicht gesprochen. Ich weiß gar nicht, ob Marlene gläubig ist“, gab Ludger freimütig zu.

 

Der Priester schüttelte unwillkürlich etwas den Kopf. „Für ein flüchtiges Vergnügen versetzen Sie Ihre eigene Mutter in so schwere Sorgen und gefährden Ihr eigenes Seelenheil?“, fragte er behutsam. Er sprach wie mit einem scheuen Kind. Ludger fühlte sich auch zunehmend kleiner und sehr verunsichert. „Ich glaube nicht, dass ich etwas gefährde. Alles fühlt sich so schön und gut an. Was kann denn daran falsch sein?“, antwortete er etwas schüchtern. Der Priester atmete einmal tief durch und sprach innerlich ein Gebetsmantra, um seinen Ärger zu zügeln und die Sanftmut eines erprobten Seelsorgers weiterhin Oberhand gewinnen zu lassen. „Was ist falsch daran, während der Arbeitszeit Privatgespräche zu führen? Was ist falsch daran, den Müll nicht zu trennen? Was ist falsch daran, abends ein zwei Bier zu trinken oder vielleicht etwas mehr? Was ist falsch daran, der Wollust freien Lauf zu lassen? Es ist ja alles so angenehm. Wer trägt schon Verantwortung über sein Handeln? Wer denkt schon an den Auftrag des Schöpfers, die Erde zu beherrschen als Gärtner und Beschützer? Wer denkt daran, dass Liebe bedeutet, sein Leben für andere hinzugeben? Das Wort Liebe einfach als Bezeichnung für schamlose Verantwortungslosigkeit zu verwenden, halte ich für Gotteslästerung! Die Ehe ist ein heiliger Bund, die Reinheit der Gedanken und Handlungen ist Ausdruck des Glaubens. Wollen Sie behaupten, dass es Ihnen egal ist, ob Ihre Beziehung vor Gott und den Menschen legitimiert wird?!“

 

Nun hatte sich der Priester doch heftiger ereifert, als beabsichtigt. Aber er war mit seiner Ausführung zufrieden. Streng fixierte er Ludger, der ganz in sich zusammengekauert dasaß. Da er nichts sagte, wiederholte der Geistliche die Frage: „Wollen Sie für eine Sünde die Gesundheit Ihrer Mutter und Ihr eigenes Seelenheil aufs Spiel setzen?“ Er sprach schneidend mit deutlicher Betonung jeder einzelnen Silbe. Ludger schwitzte. Er wusste, dass Mutter wegen Marlene krank geworden war, er wusste auch über die Gebote der Kirche Bescheid, aber bis dahin hatte es keinen Anlass gegeben, darüber nachzudenken. „Was soll ich tun?“, fragte er schließlich. „Das liegt ja auf der Hand! Sie müssen jeglichen Kontakt zu dieser Frau unterbinden, bis Ihre Mutter wieder gesund ist. Lassen Sie es nicht zu, durch Briefe, Telefonate und dergleichen vom rechten Weg abzukommen. Absolute Funkstille ist dringend erforderlich, wenn Sie nicht psychisch und moralisch in die Irre gehen und womöglich das Leben Ihrer Mutter gefährden wollen!“ Der Priester blickte auf die Uhr. „Ich muss jetzt zu meinen Patienten. Natürlich stehe ich Ihnen jederzeit als Seelsorger zur Verfügung. Beten Sie mit Ihrer Mutter den Rosenkranz. Das wird Ihnen beiden viel Segen bringen. Lesen Sie in der Bibel, besuchen Sie die Anbetung vor der Abendmesse freitags. All das wird Sie wieder auf den rechten Weg führen und wird Ihre Gedanken läutern. Gelobt sei Jesus Christus!“ „In Ewigkeit. Amen“, antwortete Ludger mechanisch und vollkommen geistesabwesend.

 

Als der Priester längst weg war, saß er noch immer in der Sakristei der Spitalskapelle, wo das Gespräch stattgefunden hatte. Totale Funkstille? Marlene, das Glück seines Lebens, nie wieder kontaktieren? Sie einfach ohne erklärenden Austausch links liegen lassen? Sein Hirn war wir leergefegt. Er konnte nicht fassen, was da ablief. Was war richtig, was falsch? Wie würde er handeln? Was würde er verlieren? Worin bestand seine Verantwortung? Ohne eine Antwort gefunden zu haben, schlurfte er zu Mutter. Bei ihr hatte er immer Trost gefunden. Sie strahlte auf, als sie ihn sah. Der Priester stand an ihrem Bett. Offenbar hatte er von Ludgers Besuch berichtet. „Mein lieber Bub!“ rief sie und streckte ihm die Arme entgegen. In ihren Augen war wieder Glanz. Das war so schön für ihn, dass er alles geben wollte, um sie wieder froh und gesund zu sehen. Er blieb lange bei ihr, spazierte mit ihr sogar ein wenig im Park umher und lenkte sich so gut er konnte von der Sorge und der Sehnsucht wegen Marlene ab. Den ganzen Resturlaub verbrachte er fast ausschließlich mit Mutter. Sie bekam stärkende Infusionen, etwas für den Kreislauf und erholte sich gut, weil sie nun aktiver war. Bald konnte sie wieder nach Hause. Ludger ließ es sich nicht nehmen, den Haushalt und das Kochen zu erledigen, bis er wieder in die Arbeit musste.

 

Während der ganzen Zeit hatte er alle Mails, SMS und Nachrichten von Marlene ignoriert. Ihr nun zu begegnen, überstieg fast seine Kräfte. Er fühlte sich so elend, als habe er eine Lebensmittelvergiftung oder sonst eine schwächende Krankheit. Bevor die anderen kamen, saß er bereits beim Schreibtisch, grüßte niemanden und tat sehr beschäftigt. „Ah, Ludger, wie war der Urlaub?“, fragte der eine oder andere. „Danke, eh schön“, antwortete er einsilbig, ohne aufzublicken. Man ließ ihn in Ruhe. Vor der Freundschaft mit Marlene war es kaum jemandem aufgefallen, ob er in Urlaub war, oder nicht. Sollte nun alles wieder werden wie früher? Alles wieder grau in grau? Als Marlene ihn sah, kam sie direkt zu ihm hin und starrte ihn an. Ludger blieb das Herz stehen. Sie stand vor ihm, böse, gekränkt, und starrte ihn fragend an. Er wagte nicht, sie anzusehen, denn sonst hätte er sie auf der Stelle, mitten im Büro umarmt und geküsst und nie wieder losgelassen. Weder Mutter noch die Hölle hätten daran etwas ändern können. Das durfte nicht geschehen. Er musste sich beherrschen. Außerdem würde ihn Marlene vielleicht nicht umarmen wollen, gekränkt wie sie war.

 

Wie ein Verbrecher saß er da mit gesenktem Haupt, die Hände zwischen die Oberschenkel geklemmt. „Wie geht es deiner Mutter?“, fragte sie endlich mit eiskalter Stimme. „Besser“, wollte er sagen, flüsterte es aber nur. Marlene ging nicht weg. Sie starrte ihn weiter an, trat einen Schritt näher, legte die Hand auf seine Schulter und sagte ihm leise ins Ohr: „Was ist los? Warum bist du so gemein zu mir und ignorierst alle meine Nachrichten?! Was habe ich dir getan?!“ Hätte er aufgesehen, dann wären ihm ihre feuchten Augen und der traurige Blick aufgefallen. Aber stattdessen stand er auf und verließ das Büro. Marlene blieb mit offenem Mund zurück, Minuten lang. Es war ihr egal, dass man sich bereits nach ihr umdrehte. Als sie es endlich schaffte, zu ihrem Platz zurückzukehren, war etwas in ihr unwiderruflich zerbrochen. Sie sollte lange brauchen, um diesen wiederholten Treue- und Vertrauensbruch zu überwinden. Wenn auch Patriks Kränkung anderer Art war, als Ludgers, blieb das Ergebnis dasselbe: Ihr Vertrauen und ihre Liebe wurden enttäuscht. Und es war absolut kein Trost für sie, wenn man ihr sagte, das bedeute, man sei eine Täuschung los geworden. „Ist es denn eine Täuschung, jemanden vertrauend zu lieben und daran zu glauben, dass er sein Wort hält?“, fragte sie sich.

 

 

Für den ganzen Rest des Tages arbeitete Ludger wie besessen. Nicht einen Blick schenkte er Marlene. Sie ihm allerdings auch nicht mehr. Sobald es ihr möglich war, ließ sie sich in eine andere Abteilung versetzen und sah Ludger nicht wieder. Er konnte das Büro zwar kaum ertragen, weil ihn alles an sie erinnerte, doch je tiefer diese Traurigkeit in ihm nagte, desto mehr suggerierte ihm das Bewusstsein, dass es doch besser sei, die bekannte Eintönigkeit zu leben, als das unbekannte Glück. Die Harmonie mit Mutter war sehr bald nach ihrer Rückkehr aus dem Spital wieder hergestellt. Marlene wurde zu Hause nicht mehr erwähnt. Kleine Unterschiede zu früher gab es aber in Ludgers Leben. Bei den Gottesdiensten setzte für ihn jedes Mal eine Art Blackout ein. Er konnte keine Inhalte in sich aufnehmen, sang nicht mehr bei den Liedern mit, war einfach nur eine leere Hülle, die an Mutters Seite saß. Sie ignorierte das, denn die schlafenden Hunde im Inneren ihres Sohnes wollte sie lieber nicht wecken. Ein weiterer Unterschied war sein kostbarster Schatz, Marlenes grünes Halstuch. Er wagte nicht mehr, es in die Hände zu nehmen oder sogar daran zu riechen, weil er fürchtete, vor Sehnsucht und Schmerz darüber, sie selbst mit seinem Schweigen von sich gewiesen zu haben, krank zu werden. Darum lag es wie eine Reliquie in einer geschnitzten kleinen Holzschatulle.

 

 

Mit jedem Tag etwas mehr Weisheit,

noch mehr Dankbarkeit –

welch schönes Altern!

 

 

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Karoline Toso

 

karoline.toso@gmx.at

 

A-8342 Gnas

Wörth 22

 

 Fotos:

(als Umrahmung der Texte)

Mit freundlicher

Genehmigung

Dechant Mag. Georg Fröschl

Pfarre Breitensee,

 1140 Wien 

www.pfarre-breitensee.at